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| Thema: Re: Ich entscheide, nicht das Heim Mo 21 Mai 2018, 11:14 © Aggi | |
| 20180521 Montagmorgen: Pfingstmontag. Ich fahr fünf vor halb acht los, damit ich Kl.Bruder und Hundchen abholen kann, bevor es weiter zu Mutti geht. Und der steht wie immer pünktlich wie eine Eins schon geschniegelt und gestriegelt mit diesem supersüßen Pekinesenmischling vor dem Haus und wartet bereits auf mich. Mein Kl.Bruder findet das selbstverständlich, aber seit ich die Leute kennengelernt hab, denen dergl am Arsch vorbeigeht, hab ich so etwas erst richtig zu schätzen gelernt! Beim Heim noch eine kleine Gassirunde und dann zu Mutti. Kl.Bruder geht mit Hundchen vor, ich linse um die Ecke und hab schier das Gefühl, dass Mutti im ersten Moment nicht weiß, wer da kommt, aber dann fängt sie an zu strahlen!!! Während ich noch meine Sachen auspacke und verteile, höre ich Mutti zu Kl.Bruder sagen, er habe sich die letzte Zeit aber auch rar gemacht. Unwillkürlich muss ich in meine Tasche grinsen. Klar, ich weiß, warum er im Moment nicht kommen konnte, aber dass Mutti sich dran erinnert, freut mich total! Dinge und Personen, die ihr was bedeuten, erinnert sie noch gut! Kl.Bruder erzählt und klönt so schön mit Mutti, da kann ich einen Moment rüber zu meiner guten Seele Elisabeth, die sich total über die Caprisonne und die Sunkist freut. Ich hab noch eine Schere dazugepackt, dann kann sie die bei ihrem Mann deponieren. Ist leichter, die Tüten direkt aufzuschneiden und in ein Glas zu füllen, als mit dem Strohhalm da lange rumzubohren. Außerdem hab ich noch zwei leere Kaffeegläser für sie ausgewaschen, Etiketten abgemacht, ob sie die als Blumenvasen will? – Und ob, Elisabeth ist begeistert! Und läßt Mutti und Kl.Bruder frohe Pfingsten ausrichten. Und wieder zurück zu Mutti hör ich direkt die Frage, wann es wohl Frühstück gibt. „Hol ich Dir, Mutti.“ Kl.Bruder soll gemütlich bei ihr sitzen bleiben, damit die beiden viel voneinander haben, ich bin doch täglich da. Heute gibt’s wieder anderthalb Scheiben Brot. Eine Scheibe mit Käse, eine halbe mit Marmelade. Mutti lauscht so interessiert, dass sie zwischendurch das Essen vergisst, aber wir erinnern sie zwischendurch. Aber mit zusätzlich so einem ruhigen, lieben, süßen Hundchen im Zimmer würde ich auch das Essen vergessen. Mutti strahlt so schön! Sicherheitshalber geht Kl.Bruder zwischendurch noch einmal mit dem Hund raus, für den ist das alles ja vermutlich am Aufregendsten! Derweil übernehme ich meinen gewohnten Part, helfe Mutti beim Frühstück und plauder glücklich. Als Kl.Bruder dann zurückkommt, ist er begeistert, wie gut sein Hundchen draußen auch bei den Bewohnern und den Schwestern angekommen ist. Der eine Bewohner, "mein Freund" ( Kl.Bruder: „Der redet aber mit einer lauten Stimme!“ – Ich grins nur.) wollte dem Hundchen dann sogar was von seinem Brötchen geben, da bekam er stattdessen aber doch lieber zwei Leckerli in die Hand, besser das für den Hund! Mutti lacht so vergnügt über all diese Geschichten, als wäre sie persönlich dabei gewesen! Aber nach anderthalb Stunden frage ich dann doch zärtlich, ob es in Ordnung ist, wenn ich jetzt zum Aufbruch blase und Mutti klimpert müde mit den Augen, oh ja. – Ich konnte schon vorher sehen, dass sie ihr oberes Gebiss nicht mehr halten konnte, das sind so typische Erschöpfungszeichen bei ihr, wenn das Gebiss z.B. runterklappt. Und die müden Augen. Anderthalb Stunden ist mehr als genug und man soll aufhörn, wenn’s am Schönsten ist. Auch Hundchen wirkt, als sei es an seine Grenzen gekommen, aber draußen vor dem Heim darf ihm mein Freund dann nochmal zwei Leckerli geben und das Hundchen streicheln. Mein Freund: „Bekommt er eine oder zwei Tabletten?“ Kl.Bruder: „Alle auf einmal.“ Jo, und auf dem Rückweg verabreden wir uns noch für Freitagnachmittag und jetzt sitze ich hier, glücklich und zufrieden, weil Mutti so einen schönen Morgen hatte. Eigentlich könnte ich jetzt ins Bett gehen, besser kann der Tag nicht werden!
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| Thema: Re: Ich entscheide, nicht das Heim Di 22 Mai 2018, 15:53 © Aggi | |
| 20180522 Dienstagmorgen: Zehn vor acht im Heim ist bei Mutti die Wäsche schon durch und Mutti liegt gemütlich auf dem Kissen, freut sich, mich zu sehen. Auf dem Nachttisch sehe ich gleich, dass da neu ein kleiner Becher mit Creme steht und frag Mutti, ob sie weiß, wofür sie ist. Ist Creme abgefüllt in einen weißen Medi-Becher mit Deckel drauf. Aber Mutti hat keine Ahnung, woher und wofür. Ich vermute, für ihre rauhe Stelle neben dem linken Mundwinkel. War mir gestern schon aufgefallen, aber bei dem Trubel mit dem zusätzlichen Besuch vom Kl.Bruder samt Hundchen wollte ich Mutti nicht noch mit so einer Frage vor den Kopf stoßen. Sie sollte sich wohl fühlen und wenn es sie selbst genervt hätte, hätte sie es von sich aus angesprochen. Aber nicht so, wenn der geliebte Sohn da ist, auch noch sagen, Du hast da eine Stelle im Gesicht. Und Mutti hat nichts davon erwähnt, ich schätze, sie hat es gar nicht bemerkt. Ich teste die Creme an mir selbst, riecht nach nix und ist etwas dünner als Penatencreme, ich denk, da hat eine liebe Schwester mitgedacht und vorgesorgt, find ich gut. Erstmal erzähle ich Mutti ein bißchen, erinnere sie nochmal an den schönen Besuch vortags – die Art, wie sie gleich lächelt sagt mir, wie schön es für sie war. Als ich dann losgehe, das Frühstück holen, treffe ich auf eine gar schlechtgelaunte Elisabeth. Ich tippe auf „Lagerkoller“, denn sie schimpft eine Weile über alles und jeden. Sagt dann aber auch selbst, ich solle mir das nicht reinziehn, sie hätte leider einen schlechten Tag. Wenigstens wurde ihr Stützkorsett repariert, aber nun passt es nicht richtig, arme Elisabeth. Wenigstens kann ich ihr helfen und schreibe auf, was sie an Einkäufen braucht. „NUR, wenn Du Zeit hast!“ – „Keine Sorge, ich muss eh einkaufen.“ Und ob ich ihr die Tage mal zwei Adventskränze aus ihrem Haus oben ins Regal legen kann? Die Einbauschränke in den Zimmern sind toll, ich liebe Schränke, die bis unter die Decke gehen, aber die oberen Fächer sind für kleine und gar gehbehinderte Menschen überhaupt nicht zu erreichen. Ersteres trifft auch auf viele Schwestern zu und zweiteres auf alle Bewohner. Wie gut, dass ich groß bin! Weiter, das Frühstückstablett holen, ich seh schon, dass Brot muss ich heute nachschneiden, die Stücken sind zu groß, aber ist ja immer ein volles Besteck dabei. Und während Mutti dann frühstückt erzähle ich von den schönen Filmen, die gestern bei uns im Hintergrund liefen. „Mutti, kennst Du das, wenn man alles stehn und liegen läßt und nur noch so in den schönen Film versinkt?!“ – „Oh ja.“ Ich beschreibe Mutti die eine Reportage über Gezeitenlandschaften mit den Halligen, Prielen, Inseln, Dünenlandschaften und Geesten, das Leben dort auf den Inseln, dem Friesisch, wo ich spontan dachte, mei, DAS möchte ich lernen und so weiter und so fort. Mutti ist ganz andächtig dabei. Sogar, wie der frühere Salz-Torf-Abbau einige Inseln zerstörte und der Mann im Fernsehen zu Recht sagte, jede einzelne Schaufel Schlick, die fehlt, verändert die ganze Landschaft. Mutti hält für ihre Verhältnisse eine richtige Rede, o.k. in Kauderwelsch, aber wen interessiert‘s, in ihrem Denken ist sie doch klar dabei und hält sinngemäß fest, wie wichtig es ist, dass solche Ursachen erforscht wurden und man heute besser weiß, was man tun und was man lassen sollte. Weil es grad passt, erzähle ich auch noch von der Hai-Reportage, die ich nachmittags, abends dann noch gesehen hab. Da meint Mutti dann sogar, manchmal denkt sie schon, sie würde so etwas gerne nochmal sehen, aber sie weiß dann auch gleich, dass das zu anstrengend ist. (Sind jetzt nicht ihre Original-Worte, aber sinngemäß übersetzt.) Kurz bin ich traurig, dass Mutti dass alles nicht mehr sehen kann. Sie war immer so vielseitig interessiert. Aber wenn, dann bin in der Sekunde nur ich diejenige, die es traurig macht. Mutti sagt das ganz gelassen ohne jede Spur von Wehmut. Stellt nur fest. Dann noch ins Dorf, die Einkäufe erledigen und als ich zurückkomme, sitzt draußen mein Freund auf der Bank und ist ganz in Aufruhr, dass ich die schwere Einkaufskiste schleppen muss. Guckt ganz traurig, das geht doch nicht. Ich bin total gerührt, diese fürsorgliche Seite kenne ich noch nicht an ihm, kann ihm aber lächelnd bedeuten, dass alles in Ordnung ist. Weiter im Flur steht bei Elisabeth die Zimmertür offen. Wie gut, kann ich gleich ihre Einkäufe mit ihr besprechen, denn ich hab heute von ihr gelernt, dass es auch gelbe Kiwis gibt. Isses denn, ich kannte bisher nur die, die von innen grün sind. Elisabeth ist immer noch in Aufruhr und erwähnt, während wir auspacken, dass sie morgen wieder zu ihrem Haus fährt und verzieht das Gesicht zu einer Grimasse. Schätze, DAS lastet heute auf ihren Schultern… Nochmal zu Mutti, der ich von den gelben Kiwis erzähle. Kennt Mutti auch nicht. „Mutti, ob wir wohl irgendwann platzen, weil wir hier jeden Tag was dazulernen?!“ – Mutti lacht so schön! Dann fragt sie mich, wie spät es ist. Kurz nach zehn. Mutti: „Nachts?“ Ganz gelassen sag ich, dass wir, bevor ich einkaufen war, doch noch gemeinsam Frühstück hatten, das war um neun und jetzt ist kurz nach zehn, da ist Mutti wieder „im Zeitplan“. Das es taghell ist, die Sonne ins Zimmer scheint, ist für ihre Orientierung ohne Bedeutung. Da ich aber problemlos immer die „Tüdelige“ von uns beiden bin, kriege ich immer die Kurve, dass Mutti dergl Durcheinanderkommen nicht runterzieht. Mir fällt immer eine Kurzgeschichte, ein zwei Sätze ein, wo ich mal wieder unglaublich durch den Wind war und schau, Mutti, solange Du nicht in MEINE Fußstapfen trittst… dergl bringt sie immer zum Lachen und dann ist alles gut für sie.
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| Thema: Re: Ich entscheide, nicht das Heim Do 24 Mai 2018, 05:51 © Aggi | |
| 20180523 Mittwochmorgen: Kurz vor acht treffe ich vorm Heim schon auf meine gute Seele Elisabeth, heute wieder gutgelaunt. Hatte ich sie falsch verstanden? Sie war gestern schon bei sich zuhause. Eine "Katastrophe", Elisabeth hat nichts wiedergefunden, weil ihr Sohn schon alle Schränke ausgeräumt hat. „Mama, habe ich alles in das-und-das Zimmer gepackt.“ – Elisabeth: „Wie soll ich da noch was wiederfinden?“ – Aber dann regt sie sich erstmal auf, wie habgierig inzwischen alle im Heim werden, kaum dass sie Elisabeth sehen. Jau, wie so oft sag ich dann zu ihr, reichst Du den kleinen Finger, reisst man Dir gleich den ganzen Arm ab. Eigentlich geht es darum, dass Elisabeth jemanden hat, wo SIE sich ausjammern kann, denke ich immer. Wo sie sich sonst den ganzen Tag das „Gejammer“ der Bewohner anhört/anhören muss… Und klar besorg ich ihr nochmal Zigaretten. „Wenn wir nicht zusammenhalten, Elisabeth, wer sonst?!“ Weiter zu Mutti, die mich mit meinem Namen begrüßt! Aber heute viel kauderwelscht. Ist heute oft ein völlig falsches Wort im Satz, aber ich weiß immer, worum es geht. Zum Frühstück steht dann wieder ein Becher Hustensaft dabei – das kann ja gar nicht, aber da ich um die Uhrzeit eh keine Schwester erreiche und nachher weiter zu meinem eigenen Arzt muss, belasse ich es bei einem Schulterzucken. Das da der Wurm drinne ist, ist nicht neu, aber hier geht’s ja nur um Hustensaft, den ich halt selber trinke, Mutti mag ihn nicht. Weiß auch nicht, wieso sie ihn heute wieder bekommt. Hab ich auch nicht erwartet, dass sie dergl erinnert. Ich hab ihn ihr angeboten und sie mochte nicht. Und ich hab dran genippt, falls es was anderes ist, Novalgintropfen würden ja genauso aussehen, war aber definitiv – bäh – Mucosolvan. Klär ich später, muss heute eh nochmal ins Dorf, meine eigenen Tabletten holen. Mutti fragt mich bei den letzten Stücken Brot dann, ob ich eigentlich nur ihretwegen noch da sitze, ob ich schon mit meinem Essen fertig bin und noch wegen Aggi warte, da sag ich halt ganz lieb, ich bin doch deinetwegen hier und so gerne bei Dir. Da lächelt Mutti glücklich! Nachdem sie alles aufgegessen hat, gehe ich noch einmal mit Frisieröl und Zackenkamm durch ihr Haar, sind doch noch wieder einige Vogelnester drinne, aber es geht so zum Glück schmerzfrei und mit meinen Plaudereien bringe ich Mutti ja immer wieder zum Lächeln und Lachen. So, und jetzt brauch ich einmal meine Konzentration für meinen eigenen Arzttermin, ich hab immer noch zu viel Kopfschmerzen und bin gefühlte Werte müder, als ich es war, als ich noch bei Mutti war. Mein Körper ist ein Weichei – ich versteh das einfach nicht, mir müsste es eigentlich viel besser gehen. Aber wo krieg ich Ersatzteile her? ^^ Später beim Arzt erklärt der mir, es gäbe durchaus sowas wie den Rebound-Effekt, dass nämlich, wenn man aus der krassen Anspannung heraus ist der Körper erstmal auf Talfahrt geht, weil er nach den langen Phasen der Anspannung, wo er immer nur funktionieren musste, jetzt die Erholung einfordert, die er zu lange nicht erhalten hat. Ehrlich gesagt bin ich enttäuscht, ich merke, dass ich mir gewünscht hatte, er würde mir sagen: "Da gibts doch was von Ratiopharm!" Aber wenigstens weiß ich jetzt, dass alles "normal" bei mir ist. Noch weiter zum Heim, da kann ich auch das mit dem Hustensaft klären. War die letzte Portion. Viel wichtiger, auch Sr. N. ist schon aufgefallen, dass Mutti immer mehr abbaut. Sr. N. hatte ja grade Urlaub gehabt und meint, grad wenn man eine Weile nicht da war, fällt das umso mehr auf. Ich weiß Mutti in guten Händen und geh mal nicht noch zu Mutti, da ich schon den ganzen Tag Kopfschmerzen hab. Noch in die Apotheke und dann um kurz vor 2 am Nachmittag ins Bett. "Ich bin normal. Ich bin normal." - Mein neues Mantra. Da gibt's halt nix von Ratiopharm. Hab mir stattdessen noch schnell Wassereis gekauft. Das hilft auch!
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| Thema: Re: Ich entscheide, nicht das Heim Do 24 Mai 2018, 13:53 © Aggi | |
| 20180524 Donnerstagmorgen: Kurz vor acht am Heim treffe ich meine gute Seele Elisabeth am Eingang. Sie schnauft und pustet und ich frag, ob sie auch unter dem Wetter leidet. Nope. Heute war Duschen und – wenn ich das richtig verstanden hab – erstmals mit dem reparierten Korsett und auf irgendwas nehmen die Schwestern ja immer nicht so Rücksicht, wie es sein sollte. Manchmal tun mir die Schwestern schon leid, aber ich hoffe und glaube, es ist einfach wichtiger, wen auch jammern zu lassen, solange es nicht Überhand nimmt. Und Elisabeth verliert ja bei allem nicht ihren Humor. Wo ich kurz mit in ihr Zimmer komme, um einen Einkaufszettel zu schreiben, verlangt sie heute „Platzgeld“, weil ich mich dazu immer auf ihren Stuhl setze. *gg* Weiter zu Mutti, fängt Mutti richtig herzlich an zu lachen, weil ich ja erstmal erzähle, dass ich Elisabeth getroffen hab. So schön! Mutti begeistert das ehrlich, wie oft ich Elisabeth begegne und freut sich aufrichtig über die Grüße! Das Elisabeth inzwischen schon grübelt, was man Mutti wohl zu ihrem Geburtstag schenken kann, wehrt Mutti dann ab. Aber ich „verkaufe“ Mutti das damit, dass sie selbst schuld hat: „Mutti, Du bist einfach zu nett. Müsstest wirklich mehr die Zimtzicke rauskehren, dann wollte Dir bestimmt keiner was schenken!“ Mutti kugelt sich vor Lachen! Und stimmt mir zu, dass es wohl nicht mal einen Kursus gibt, wo sie lernen könnte, wie man eine Zimtzicke ist. Keine Chance, Mutti! ^^ Dann erstmal das Frühstück holen. Heute ein bunter Teller, ein Drittel Käse, ein Drittel Kochschinken und ein Drittel Marmelade. Sieht richtig schön aus und das findet Mutti auch. Zum Frühstück erzähle ich vom Hähne-krähen bei mir im Dorf. Gestern Morgen kurz vor 4 Uhr ging es los. Erst der Hahn gegenüber. Dann einer so weit weg, dass ich ihn kaum hören konnte, musste richtig die Ohren spitzen. Als dritter dann einer von der linken Seite. „Mutti, Hähne sollen ja krähen, wenn die Sonne aufgeht, aber keine Ahnung, ob die da richtig lagen. Ich war nur fasziniert, das die immer nacheinander im Terzett zugange waren. Als wäre es ein Wettbewerb, wo keiner aufgibt, solange die andern doch mitmachen!“ Mutti ist ganz bei der Sache. So richtig begeistert, als würde sie die Hähne selber hören. Ich beschreibe, wie es immer Pausen gab, wo ich schon dachte, naaaa, stecken die jetzt auf? Und dann ging es noch wieder weiter und noch wieder weiter. Irgendwann hab ICH dann aufgesteckt, die wurden und wurden einfach nicht heiser! Und Mutti lacht so glücklich! Trotzdem ist Mutti heute ziemlich schlapp, wirkt beim Essen immer wieder so, als ob sie gleich einschläft. Die letzten zwei Stückchen Brot lässt sie dann auch liegen, hat aber gut gegessen und getrunken. Ich helfe ihr noch, sich hinterher noch gemütlich einzumummeln und kämme ihr nochmal die Haare. Weil’s schön ist! Danach noch ins Dorf. Wie jedes Mal frage ich Mutti, ob ich was mitbringen kann. Schlage auch jedes Mal was vor. Jedes Mal das Gleiche. „Och, ich hab doch alles. Ich brauch doch nix.“ Ob ich nun was Mögliches (Essen, Trinken, however) oder was Unmögliches (Pelzjacke, High-Heels, Diamentencollier) vorschlage, wenigstens bringe ich Mutti mit letzterem immer gut zum Lachen. Also einkaufen. In der Apotheke freue ich mich, dass ich schon unaufgefordert gefragt werde, ob ich fürs Seniorenzentrum noch Zeitungen mitnehmen möchte! Die kriegt Elisabeth und verteilt sie weiter. Und hat immer glückliche Abnehmer! Wieder zurück ins Heim, nochmal kurz bei Mutti rein. Die doch wirklich fragt, ob mir das nicht zuviel wird, wenn ich andauernd in … na, wie heißt das hier noch? … (ich sag ihr den Ortsnamen vor) … ja genau, wenn Du immer hier in Soundso bist … Meine liebe Mutti! … Ich nehme ihre Hand in meine und gehe Dich an ihr Gesicht, damit sie mich gut sieht und versicher ihr mit einem Lächeln, wie gerne ich bei ihr bin und dass sie doch fühlen würde, wenn ich nicht gerne bei ihr wäre. Dann frag ich sie, ob sie mich denn schon satt hätte und da gibt sie mir einen Klaps auf die Hand und lacht, neee, gar nicht! Und ich spiel diejenige, der jetzt aber echt ein Stein vom Herzen gefallen ist! *gg* Immer wieder mal sorgt sie sich, mir würde das „sie besuchen“ undCo. zu viel werden. Nein, Mutti, da hab mal keine Sorge!
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| Thema: Re: Ich entscheide, nicht das Heim Sa 26 Mai 2018, 06:36 © Aggi | |
| 20180525 Freitagmorgen/-nachmittag: Kurz vor acht am Heim steht draußen schon meine gute Seele Elisabeth, gutgelaunt. Oder auch nicht. Hat sie doch, bevor die Schwester zum Waschen kam, schon ALLES vorbereitet gehabt, aber nee, nee, nee, die machen ja doch immer alles anders… Aber Elisabeth hat gute Laune, ihr Sohn war gestern da, hat fünf Wäschekörbe Tischwäsche aus dem Haus mitgebracht und sie hofft, noch jemanden damit zu erfreuen. Ihre Idee klingt richtig gut. Sie gibt dergl einfach ungern anonym weg an Sozialdienste, sondern möchte lieber persönlich wissen, in welche Hände ihre Sachen geraten. Und ich kann ihr noch sagen, wie sehr sich Mutti inzwischen immer freut, wenn ich von ihr erzähle: „Du tust Mutti sogar in Abwesenheit richtig gut!“ – Darüber freut sich wiederum Elisabeth. Mutti liegt entspannt im Bett und meint, eigentlich wartet sie nur noch darauf, dass jemand das Essen bringt. Kein Problem, Mutti, darum kümmer ich mich doch gerne! Auf dem Tablett liegen heute anderthalb Scheiben halb Käse, halb Marmelade. Und während Mutti isst, erzähle ich, wie ich mich freue, heut Nachmittag den Kl.Bruder zu treffen. Und das ich hoffe und wünsche, dass er noch Zeit hat, dass wir hinterher noch zu ihr kommen können. Da ist Mutti dann wie immer total verständnisvoll – wenn es nicht klappen sollte, sei das kein Problem. Sie kauderwelscht, einmal kommt das Wort „Klebstoff“ vor, aber ganz klar, möchte sie sich nicht in unsere „Termine“ einmischen. Aber durch die Überleitung falle ich selbst in Erinnerungen an die Kindheit und munter Mutti mit Neckigkeiten von früher auf, wo sie selbst ein paar Mal sagt, oh ja, wenn sie sich dann auch erinnert. Ich zähle Namen und Orte auf und beobachte in Muttis Gesicht ihre Zeitreise, aus Sicht der Demenz ist die Verklärung der Vergangenheit etwas Wunderschönes, finde ich! Und bringe sie zum Lachen, weil es mich und Kl.Bruder technisch gesehen ja gar nicht gibt, denn die Straße, in der wir beide geboren wurden, wurde später umbenannt – „Kiek, Mutti, und von daher gibt’s uns beide gar nicht, geboren sind wir in der Soundso-Str. und nü gibt’s die gar nicht mehr…“. Mutti weiß sofort, was ich meine und lacht mit mir zusammen! Am Schönsten finde ich, dass Mutti von sich aus weiß, dass Kl.Bruder und ich immer schon ein gutes Verhältnis hatten. "Mutti, das liegt bestimmt daran, dass Kl.Bruder und ich im Soundso-Haus auf die Welt gekommen sind, das war das beste von allen!" Mutti stimmt mir lachend zu. Die drei andern sind in andern Häusern (wir sind alles Hausgeburten) auf die Welt gekommen. Das erzähle ich nachmittags dann auch meinem Kl.Bruder. Der weiß sofort, dass Mutti das auch früher schon oft bestätigt hat, dass er und ich ein besonderes Verhältnis haben. Schon früher, als sie noch nicht dement war. Und nach unseren Erledigungen fahren wir wirklich noch einmal gemeinsam zu Mutti, die sich total freut! Kl.Bruder trägt im Moment eine Gipsschiene am linken Handgelenk und Mutti muss herzlich lachen, weil ich ihr sage, jetzt muss sie "pusten", damit es wieder besser wird. Zwar können wir nicht lange bleiben, aber auch "weniger" kann "mehr" sein. Und nebenbei vertreibt mein Bruder auf der Rückfahrt dann noch meine chronischen Sorgen, mein Mann könnte mal das Handtuch schmeissen, weil alles ja doch sehr belastend ist, indem er sagt: "Ich hab mich oft mit ihm unterhalten und bin mir sicher, der bleibt bis an Dein Lebensende mit Dir zusammen!" Jo, mein eigenes, schlechtes Gewissen meinem Mann gegenüber ... als ich dem dann abends davon erzähle, guckt der ganz erstaunt und meint lakonisch: "Du kennst mich doch?! Ich hasse Veränderungen, warum sollte ich mich also von Dir trennen?" - Während ich noch grinse, fügt er dann noch nach einer Kunstpause hinzu: "Und überhaupt, was Besseres finde ich eh nicht. Wozu sollte ich mich also verschlechtern?"
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| Thema: Re: Ich entscheide, nicht das Heim Sa 26 Mai 2018, 16:04 © Aggi | |
| 20180526 Samstagmorgen: Zehn vor acht am Heim steht draußen meine gute Seele Elisabeth und lacht mir schon entgegen: „Du musst mir aber wirklich kein Geschenk mitbringen!“ ^^ - Liegt daran, dass ich unterm Arm einen grossen Karton mit mir schleppe. Kläre aber auf, sind ausrangierte Kleiderbügel drin. Erstmal für Muttis Zimmer, wegen dem allgemeinen Kleiderbügelschwund. Elisabeth gleich: „Oh, wenn ich das gewusst hätte.“ Bei ihren Hausräumarbeiten haben sie auch schon Kleidersäckeweise Kleiderbügel entsorgt. Ja nee, is klar, hinterher ist man immer schlauer. Hat sie einfach auch noch nicht drüber nachgedacht oder Probleme mit gehabt. Wurscht. Stattdessen erzählt sie von Muttis Zimmernachbarn, der wieder tief in der traurigen Phase steckt, wo er täglich neue „Krankheiten“ bei sich entdeckt. Und immer vergesslicher wird. Elisabeth kommt so langsam an ihre Grenzen… Liegt wohl auch daran, dass gestern sein Neffe, der fast täglich zu Besuch kommt, jetzt mit seiner Frau auf Urlaub gefahren ist. Elisabeth hätte Muttis Zimmernachbar erstmal energisch ins Gebet genommen, denn er könne ja wirklich nicht nur an sich selber denken. Die Frau des Neffen ist Krankenschwester und die beiden brauchen auch mal eine Auszeit. „Ja, das verstehe ich.“ Hätte er dann auch gemeint. Und hinzugefügt: „Jetzt geht es mir schon besser.“ Elisabeth schimpft, sie hätte sich wohl über eine halbe Stunde um ihn gekümmert, auch mit Saubermachen und erklärbären, wie er sich selber am besten den Po abputzt. Elisabeth meckert, dass müssten doch eigentlich die Schwestern tun, sie müsse sich doch an erster Stelle um ihren Mann kümmern. – Was soll ich sagen? Diesmal grins ich nur schief und streichel ihr den Arm. Jetzt die Schwestern in Schutz nehmen wäre falsch und Elisabeth ändern ist ein Ding der Unmöglichkeit. Also trösten und Mut zusprechen. Und wir gehen auseinander, indem Elisabeth Mutti grüßen läßt und ich ihren Mann. Jo, und Mutti grinst dann auch über den Karton, hab ich dann aber rasch erklärt und über die Grüße von Elisabeth freut sich Mutti richtig. Ich erzähle Mutti dann auch im Flüsterton von den Sorgen ihres Zimmernachbarn. Das versteht Mutti und tut Mutti für ihn leid. Wo ich dann am Ende meine, Männer hätten es da vielleicht auch noch anders schwer, pflichtet Mutti mir gleich bei. [ Meine Verneigung vor mitlesenden Männern hier an Board: Ich weiß, dass Mutti das so sieht und der Zusatz passte von daher. Muss nicht unbedingt meine Meinung wiedergeben. Ich kenne Euch „Mannsvolk“ schon ein bissi besser, als es sich hier vielleicht grad liest und halte viel von Euch!] Dann erstmal das Frühstück holen. Heute fehlt die Milch, also mit dem leeren Kaffeebecher in den Speisesaal für die mobilen Bewohner, wo eine Schwester ganz erschrocken ist, wie sie die Milch vergessen konnte. Sag ich zu ihr: „Wenn Sie wüssten, was ICH täglich vergesse, würden Sie mich prompt hier einweisen!“ ^^ - Sie verspricht, für mich ein Ave Maria zu beten. „Aber nur eins!“ *gg* Grinsend zurück zu Mutti, die herzlich über die Ave-Maria-Geschichte lacht. Ihre Serviette ist dann so stark gestärkt, dass wir erstmal beim Thema „Vatermörder“ sind, die gestärkten Kragen der Urzeit, wo es noch schick war, das Gegenteil von Schlabberlook zu tragen. Heute anderthalb Scheiben mit „apper“ Brotkruste – wenn ich alt bin, will ich auch „appe“ Brotkruste, überleg ich so. Plus ein Wackelpudding, heute orange und ich denk noch, naaa, vielleicht in dieser Farbe? Beim Essen klönen wir noch wieder über Kl.Bruder und seine Gipsschiene und ich richte noch die lieben Grüße seiner Freundin aus, die selbst in großer Sorge um ihre eigene Mutter ist. Mutti hält hohe Stücke auf diese Frau, was eine Auszeichnung ist, die so schnell keiner von ihr bekommt! Nachdem Mutti dann ihr Brot völlig selbstständig geschafft hat, stelle ich ihr noch fröhlich den orangenen Wackelpudding mit Vanillesoßehaube vor. Muttis Gesicht sagt schon „Nein“, bevor Mutti höflich ablehnt. Ich setzte mich dann, als der Tisch „abgeräumt“ ist (Mutti fragt mich öfters, ob ich das machen muss, dann sag ich immer, das mach ich doch gerne – den Tablettrollwagentisch eben an die Seite fahren), noch zu Mutti auf die Bettkante. Erzähle von meinen Gartenplänen für heute. Das Vorgartenbeet ist endlich dran, nachdem die Rasensaat jetzt so stabil ist, das ich da rumturnen kann. Erzähle Mutti, dass ich bei der Gartenarbeit immer an sie denken muss. Mutti: „Wie das?!“ – Ich: „Oh, immer nach ca. einer Stunde fang ich an zu Weinen: Rööööbääääh, ich bin nicht Muttis Tochter, ich hab nicht ihre Ausdauer….“ – Das letzte Wort „Ausdauer“ muss ich für Mutti wiederholen. Dann lacht sie und sagt: „Da widerspreche ich … „ (macht sie doch echt ne Pause!!!) – „… mal nicht!“ Und lacht und lacht und ich kann nur noch rufen: „Ich liebe Dich!“ und gebe ihr ein Küsschen. Mutti erzählt noch, sinngemäß, dass sie (und andere, sie spricht in der Wir-Form) immer schon dieses harte Arbeiten draußen geliebt haben, weil man da dann gewusst hat, was man geschafft hat. Und sich gut gefühlt hat.
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| Thema: Re: Ich entscheide, nicht das Heim Mo 28 Mai 2018, 13:07 © Aggi | |
| 20180527 Sonntagmorgen: Zehn vor acht im Heim steht im Flur zu Mutti ein Tablettwagen mit Frühstückstabletts. Ich seh, dass Muttis Tablett auch dabei ist und entdecke darauf einen Brief von der Krankenkasse. Den nehme ich schon mal mit und kann schon fühlen: Die neue Krankenkassen-Karte. Hmmm, 2 Wochen finde ich jetzt aber nicht „schnell erledigt“, wie die Pflegedienstleiterin meinte, also nehme ich diese Karte erstmal mit nach Hause, einmal einscannen und Montag lasse ich mir dann alles an „alten“ Karten aushändigen, damit das Getüdel endlich mal ein Ende hat. Zu Mutti sag ich natürlich nur, wie schön, dass die Kasse immer automatisch eine neue Karte schickt, endlich mal was, wo man nicht hinterherlaufen muss! Und erzähl ihr von meiner tapferen Gartenarbeit gestern in der hochsommerlichen Hitze, die ich tatsächlich anderthalb Stunden bis kurz vor zwölf ausgehalten hab – dann aber echt auch kurz vor Kreislaufkollaps war. Ich mache Mutti vor, wie ich mich da mit meinem ganzen Körpergewicht fast horizontal gelegt hab, um das ganze Efeu aus dem Beet zu rappen und schon das Gefühl hatte, gleich zieht es mich zurück und verschlingt mich! Muttis Augen leuchten, diese Art von wurachen hat sie immer geliebt! Und wie schön das ist, wenn einem schon der eigenen Schweiss beim Runtergucken auf die Brillengläser tropft – Mutti nickt mit dem ganzen Oberkörper, jau, wir Brillenträger haben es ja überall immer doppelt schwer! *gg* Dann erstmal das Frühstück holen. Heute ist das Brot mal wieder zu groß geschnitten. Liegt’s am Sonntag? Mutti ist ganz erstaunt, dass heute Sonntag ist – wie die Zeit doch immer vergeht! Aber sie meint, von der Hitze würde sie so nicht so viel mitbekommen. Ihr Zimmer im Seniorenzentrum ist wirklich fantastisch, erst scheint noch wunderschön die Sonne rein, auf zwei Seiten schöne tiefe Fensterfronten, aber die Mittagshitze bzw. die Sonne wandert dann um die Seite weiter und nervt tagsüber nicht! Da war Muttis Schlafzimmer in den über zwei Jahren, die sie in ihrem Haus gelegen hat, im Sommer eher ein Hochofen, weil da auf der Fensterfront den ganzen Tag die Sonne stand. Da hatte ich ein spezielles Lüfte-erst-hier und dann Lüfte-dort-System entwickelt, damit nicht unnötig warme Luft rein kam und genug kühle Luft blieb. In der Erinnerung bin ich den ganzen Tag durch dieses riesige Haus gehoppelt wie ein Hamster im Laufrad, nur um hier ein Fenster auf und da eine Tür zu und haste-nich-gesehn. „Mutti, weißte noch, wenn alle Stricken gerissen sind, habe ich dann eins von Deinen Trägernachthemden angezogen! Und gehofft, dass der Postbote NICHT klingelt!!!“ Jo, an MICH in ihren Nachthemden erinnert Mutti sich noch lachend. Wieweit sie noch ihr eigenes Schlafzimmer erinnert, ist mir nicht so ganz klar. Aber auch wenn Mutti das Wetter nicht belastet, drömelig ist sie heute trotzdem. Rutscht im Liegen immer weiter zur Bettkante und klimpert müde mit den Augen. Schafft auch nicht das ganze Brot. Macht nix, sie meint, sie ist einfach nur satt, aber zufrieden. In unserer ruhigen Atmosphäre schnappe ich mir nochmal mein altes Liederbuch (5. bis 7. Schuljahr) und blätter ein bißchen und finde „Lobe den Herren den mächtigen König der Ehren“, fange an, es zu summen und singe es dann auch. Nicht schön, aber zu tief… dafür mit Gänsehaut. Mutti scheint es zu gefallen, sich einfach berieseln zu lassen, lese ich ihrem Körper und ihrer Mimik ab und blätter weiter. Summe „Lieb Nachtigall wach auf“ und singe es dann auch. Die erste Strophe, meine Stimme taugt heute irgendwie nicht richtig, aber wurscht, denn Mutti meint gleich, das sei das Lieblingslied ihres Vaters gewesen. Hab ich gleich noch eine Gänsehaut! Ich frag Mutti, was Opa für eine Singstimme hatte. Bass-Bariton meint Mutti. „Ich hätte Opa so gerne mal singen gehört.“ Mutti: „Das ist nun alles vorbei.“ Aber so in einem beiläufigen Ton, wie man sagen würde: "Es ist grad 8 Uhr 45." Ohne Bedauern in der Stimme. Stellt nur fest. Aber dann nach einer Pause, wo wir beide vor uns hin sinnieren, meint Mutti, in diesem Gebäude … ist Singen doch schön! – Und ich erzähl Mutti mal wieder von meiner Ausbilderin, die höchstens mal aus Versehen beim Singen einen Ton richtig getroffen hat – aber für ihr Leben gerne gesungen hat. Sie war die Sorte Mensch, die es geschafft hätte, die Callas aus der Tonlage zu bringen, aber sie war mit so einer Freude dabei, hat mit so viel Herz gesungen, dass es völlig latte war, ob sie die Töne traf – ihr Herz hat gesungen und DAS war schön! Bis heute noch sehe ich ihr Gesicht, ihre lachenden Augen – unvergessen! Und Mutti pflichtet mir bei. Nein, es geht nicht darum, die Töne zu treffen, wenn man nur gerne singt! ++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++ 20180528 Montagmorgen: Als ich kurz vor acht beim Heim ankomme, verstellen lauter Baustellenfahrzeuge den Weg und überall laufen Bauarbeiter herum. Der Praktikant, der mit mir ankommt, hat auch keine Ahnung, was los ist, aber drinnen klärt mich Elisabeth auf: Vorne beim Haupteingang kommt jetzt eine überdachte Sitzecke neu. – O.k., bei den Temperaturen heute wär ich mehr für Swimmingpool, aber man kann ja nicht alles haben. Zuerst gehe ich aber zu Mutti, die unter einer ganz dünnen Sommerdecke liegt. Die normal Decke haben die Schwestern auch noch im Zimmer gelassen und ich freu mich, dass ich den Toilettenstuhl von Mutti reaktiviert hatte: Er ist längst zu einer ungemein nützlichen Ablage geworden. Heute für die Ersatzdecke, falls es nachts wieder kälter wird. Als ich Mutti von den Bauarbeiten erzähle und das nachher wohl auch Baulärm zu hören sein wird, meint sie, sie hätte sich heut früh schon gewundert, noch keinen Baulärm zu hören. Ich denke, da driftet sie dann anhand meiner Erzählungen. Das geht inzwischen ganz schnell, das ich etwas Neues erzähle und sie antwortet fast im nächsten Satz, als wüßte sie das schon lange oder immer schon. Aber alles gut – für uns kein Problem! Und dann kommt eine super fröhliche Elisabeth zu Besuch und verbreitet gute Laune und fragt mich zaghaft, ob ich zufällig heute … ja, ich gehe heut noch einkaufen! ^^ Für Mutti ist das eine schöne Abwechslung, irgendwie flachsen Elisabeth und ich auch extra, um Mutti auch nochmal zum Lachen zu bringen. Dass Mutti heute matt wirkt, wundert mich nicht – bei der Hitze, obwohl ihr Zimmer wirklich angenehm ist. Im Vergleich zu draußen eine Oase! Aber sie schafft ihre Scheibe Brot, aber den Vanillie-Sahne-Pudding möchte sie dann nicht. Dafür kann ich ihr noch die Haare kämmen und sie freut sich, als ich ihr sage, dass sie gut aussieht! Nachdem ich dann Einkaufen war und wieder im Heim bin, husche ich erstmal bei Mutti rein, inzwischen ist es ca. halb elf und Mutti liegt da einfach ganz entspannt, lächelt, alles gut. Ich also weiter, eben die Sachen zu Elisabeth bringen, da treffe ich auf dem Flur Sr. An., die schon fragt, ob ich schon bei Mutti war, wie es der geht. – Äh, alles oki?! – Als ich dann von Elisabeth wieder zu Mutti gehe, weil ich das Wechselgeld vergessen hab, wechselt Sr. An. grad bei Mutti die Vorlagenhose. Mutti hatte Durchfall... Merkt sie das selbst gar nicht mehr? … Zu mir kein Wort und gerochen hatte ich leider nix … Sr. An. ist auch schon fertig und ich plauder einfach noch so mit Mutti. Hinterher noch zu Sr. D., ich wollte ja noch die neue Krankenkasse gegen die alte austauschen. Kein Problem und auch Sr. D. spricht mich auf Muttis Durchfall an. Ich hab auch keine Ahnung, woher das kommt. Die große Hitze zur Zeit? Wir reden noch darüber, dass Mutti dergl von sich aus nicht meldet. Sie sagt nichts, klingelt nicht, will nichts, ist mit allem zufrieden. Aber Sr. D. erzählt, gestern hätte Mutti noch Holunderbeersaft angeboten bekommen und gemocht und getrunken. Das ist mal was. Wie oft lehnt sie sonst ab! Na immerhin! Ich hoffe einfach, dass mit dem Durchfall war eine einmalige Sache. Sonst hatte sie oft eher Probleme mit Verstopfung. Ich frag morgen wieder nach.
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| Thema: Re: Ich entscheide, nicht das Heim Mi 30 Mai 2018, 05:38 © Aggi | |
| Liebe Belle, bei Deinen Zeilen musste ich lächeln. - Belle schrieb:
- wenn ich deine Beiträge so lese, frage ich mich "wo nimmt diese Frau nur diese Engelsgeduld her????"
*gg* So sehe ich das gar nicht. Es ist einfach so. Sobald ich zu Mutti gehe. Das passiert von ganz alleine. - Belle schrieb:
- Gibts da einen Schalter irgendwo?
Wenn, dann ist es der Umstand ihrer Hilflosigkeit. Das Wissen, was ihr gut tut und das Wissen, was ihr schadet. Also bleiben die Sorgen draußen, wenn ich zu ihr gehe. Die großen Sorgen jedenfalls. Kleine Sorgen kann ich ihr schon erzählen. Das braucht sie auch, so wie wir neben Sonne ja auch den Regen brauchen. Nur bei Demenz alles in besonderen Maßen oder "Dosen". Und es gibt ihr das Gefühl, gebraucht zu werden. Ich lerne immernoch von ihr. Dinge, die ohne die Demenz gar nicht möglich wären. Friedliche Sachen. Die hoffentlich aus mir einen besseren Menschen machen... Für mich ist das das Gute an der Demenz. Sie ist nicht nur etwas Schreckliches. Ich kann dieser Krankheit auch Schönes abgewinnen. Danke für Deine lieben Zeilen, Dir und Deiner Mutter auch weiterhin alles Gute! Aggi ++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++ 20180529 Dienstagmorgen: Viertel vor acht im Heim sitzt an einem der Tische die stille Frau G. Aus der Heimzeitung weiß ich, dass sie heute Geburtstag hat und geh zu ihr in die Hocke und gratuliere ihr. Sie greift auch wirklich nach meiner Hand und sagt leise Danke. – Die Arme muss mehrfach die Woche zur Dialyse und war anfangs so stumm, dass ich mich fragte, ob sie überhaupt reden kann. Inzwischen erwidert sie meinen Gruß auch mit Blickkontakt. Alles sehr leise, sehr still, aber ich freue mich jedesmal. Unterwegs zu Mutti treffe ich meine gute Seele Elisabeth, sie kommt grad aus dem Zimmer von Muttis Zimmernachbarn und schüttelt den Kopf. Heute Morgen klagt er über Wasser in den Beinen (hat keins nach Elisabeths Dafürhalten) und Magenschmerzen. Bekommt heut sein Frühstück im Zimmer und der Arzt soll kommen und sein Neffe ist informiert. Elisabeth meint, ihm könne eigentlich nichts fehlen, er würde immerzu fragen, ob er nicht eine Pille kriegen kann. Er wird aber auch zunehmend vergesslicher. Elisabeth belastet das sehr, aber ich soll erstmal die Mutti lieb grüßen. Und Mutti liegt ganz zufrieden lächelnd im Bett und freut sich, mich zu sehen. Unter der Hitze hätte sie gar nicht gelitten, meint sie auf meine Frage. Ihr Zimmer ist angenehm kühl. Dafür erzähl ich lachend, wie mein Mann und ich gestern auf seinem Geburtstag sogar aufs Grillen verzichtet haben, bloß kein warmes Essen … alles viel zu warm. Mutti fragt dann ganz besorgt, ob wir auf seinem Geburtstag denn gar nichts gegessen hätten? – „Keine Sorge Mutti, bloß eben nichts Warmes!“ Dann erstmal das Frühstück holen. Mutti: „Ach, wenn Du das tun magst?!“ Und heute steht neben dem üblichen Brot ein Becher Kirschjoghurt „Sahnekörbchen“ dabei. Ob das mal was für Mutti ist oder besser nicht, wo sie gestern Durchfall hatte? Erstmal fängt Mutti ja sowieso immer mit ihrem geliebten Brot an. Während des Frühstücks frag ich dann mal unverfänglich nach, ich hätte da gestern gehört, wie das denn mit dem Durchfall bei ihr war. Mutti: „Ja, das haben sie mir auch erzählt.“ Weiß aber von nichts und hatte vor allem keine Beschwerden. Keine Bauchschmerzen und kann sich an nichts erinnern. Von daher kann es nicht so schlimm gewesen sein, an Beschwerden kann Mutti sich eigentlich noch erinnern. Sie weiß noch, dass sie „unterrum“ gewaschen wurde, „Aber da kann ich doch nicht hin sehen.“ – Jo, logisch! Nachdem Mutti mit dem Brot fertig ist und ich sie an ihre Tabletten erinnert hab – da fragt sie jetzt täglich nach, wenn ich sie erinner, ob die für jetzt oder heute sind - mag sie aber auch keinen Joghurt mehr. Macht nix, mit Durchfall gestern ist Sahnejoghurt auch nicht so optimal. Aber sie schafft den Becher Kaffee und ist danach satt. Nach dem Abräumen frage ich, ob ich sie noch einmal kämmen darf, „Ja gerne!“ – Komisch, wie gerne wir beide das inzwischen haben. Ist schön! Und Mutti mummelt sich dann schläfrig auf die Seite. Und ich dackel noch mit meinem Karton ausrangierter Kleiderbügel, die ich morgens mitgebracht hab, zur Wäscherei. Da strahlt mich die liebe kleine Frau total glücklich an, als würde ich ihr einen Lottogewinn bringen, was mich wiederum glücklich macht. Och schön, solche Kleinigkeiten. Auf dem Rückweg noch kurz in den Speisesaal für die dementen Bewohner, wo mich mein Freund gleich begrüßt mit „Meine Freundin!“. ^^ - Ich nehme seine Hand wie immer und er erzählt mir mit vollem Mund, dass er nicht reden kann, weil er den Mund voll hat und noch etwas mehr. Ich wünsche guten Appetit und geh einen Schritt weiter zu Sr. Au., der ich nur sagen wollte, dass Muttis Vorname in der Heimzeitung falsch geschrieben ist. Kein Problem, ich denk nur weiter an die … eines Tages … Traueranzeige im Trauerbuch … Sr. Au. verspricht, das gleich zu korrigieren. Dann wende ich mich nochmal meinem Freund zu, der mir ein Lied vorsingt, eigentlich sich selbst, ein selbsterfundenes Lied darüber, wie er grad die Butter auf sein Brot schmiert und der blöde letzte Klacks nie so will, wie man selbst. Ich bin total hin und weg! Dann wünsche ich allen noch einen schönen Tag und winke der anderen Dame mit der Hand zu, die genauso zurückwinkt und grinst. Gibt es was Schöneres?! Wieder zu Mutti, noch ein bißchen klönen. Ich erzähle ihr noch, wie ich auf dem Geburtstag meines Mannes dann auch noch den Telefonhörer in die Hand gedrückt bekam, um auch noch mit Kumpel F. (Mutti erinnert seinen Namen auch noch) zu reden. Ich bringe Mutti damit zum Lachen, wo ich beschreibe, wie ich F. dann sagte, ich müsse Schluss machen, weil mein Mann jetzt schon ungeduldig auf sein Negerkussbrötchen wartet. Das hat dann noch eine Kaskade Witze ausgelöst: „Habt ihr denn auch Hütchen?“ – „Na klar, Hütchen, und Topfschlagen.“ – „Auch Girlanden?“ – „Und Luftschlangen! Aber erst die Spiele auf dem Rasen! Plumpsack und Blinde Kuh!“ – Mutti gluckst vor Lachen, ich lache mit ihr, genauso wie F. und ich gestern am Kichern waren. Ich sag noch zu Mutti, „Ach herrlich, ausgelassen wie die kleinen Kinder!“ Da meint Mutti: „Ach nee. Gar nicht wie die kleinen Kinder. Mehr wie die grossen Mädchen und Jungs!“ – Jau! Recht hat sie!!!
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| Thema: Re: Ich entscheide, nicht das Heim Mi 30 Mai 2018, 14:49 © Aggi | |
| 20180530 Mittwochmorgen: Viertel vor acht am Heim steht draußen schon meine gute Seele Elisabeth. Sie schnauft – das Wetter ist nicht zum Aushalten. In Osnabrück soll es „Land-unter“ gegeben haben, bloß wir hier kriegen nix vom Regen ab. Die paar Tropfen in der Nacht taugen doch nicht in die Tüte … Jo, wir haben morgens schon wieder fast 20 Grad und eine Luft zum Schneiden. – Und Elisabeth erzählt noch von Muttis Zimmernachbarn, der sich gestern nicht beruhigen wollte. Hat schon eine Tablette (vom Arzt verschrieben) bekommen und quengelte wohl den ganzen Tag nach mehr. Elisabeth hat ihm dann erklärt, die hätte eben eine „Langzeitwirkung“. Aber sie ist inzwischen vollends entnervt. Ich benutze in ihrer Gegenwart öfters Begrifflichkeiten wie Demenz und heute sagt sie selbst, er wird wohl dement. Gestern hatte ich ihr noch geraten, notfalls müsse sie sich auch etwas zurückziehen, aber ich schätze, dass kann sie auch nicht. Immerhin finden wir zwei immer irgendwas, worüber wir gemeinsam lachen können. Ich biete mich auch gerne selber an, hatte schon wieder vergessen, gestern am Dienstag die Fernsehzeitung mitzubringen und tu so, als ginge ich erstmal in die Ecke, mich schämen … Nachdem wir dann noch gemeinsam lachen konnten, geh ich rein ins Haus, wo in der Sitzecke mein Freund sitzt und als er mich erkennt, die Arme weit ausbreitet: „Endlich jemand, den ich umarmen kann.“ - Klar lasse ich mir diese Umarmung nicht entgehen und sag ihm dann, jetzt geh ich erstmal weiter zu meiner Mutti. Da staunt er, hat er doch gedacht, ich gehör zum Haus?! – Sag ich, na klar gehör ich dazu! Da ist er beruhigt und ich hab nicht das Gefühl, gelogen zu haben. Mutti liegt entspannt im Bett und lächelt mich an. Es ist wunderbar kühl in ihrem Zimmer! Und Mutti meint auch, ihr würde die Hitze nichts ausmachen. Also erzähl ich erstmal, wie ich gestern doch noch mit Pausen anderthalb Stunden im Vorgartenbeet gewuracht hab. Die erste Pause schon nach einer halben Stunde und nach einer genauso langen Pause nochmal eine Stunde. Und danach „nackend“ in den Bademantel, weil mein Körper das mit Schwitzen quittiert hat, „Mutti, wie es die Welt noch nicht erlebt hat!“ – Ich erzähl ja mit Grimassen und Faxen, so dass Mutti auf alle Fälle lachen und sich keine Sorgen machen muss. Aber sie meint doch, war wohl zu lange. Na klar, aber „Kennst Du das, wenn es im Garten Spaß macht und man die eine Sache noch zu Ende bringen will?!“ – „Oh ja!“ Dann erstmal das Frühstück holen. Anderthalb Scheiben Brot, eine ganze mit Käse und eine halbe mit Marmelade. Wieder bei Mutti erzähl ich ihr noch von der Umarmung, die ich eingangs bekommen hab, während ich ihr Frühstück klar mache, incl. dem Schluck kalt Wasser in den Kaffee, Bett hochfahren, Kopfteil hoch, Serviette für Mutti (oder Handtuch), „Liegst Du auch gut?“ etc. – Als ich Mutti erzähle, dass mein Mann schon eifersüchtig ist, weil ich hier im Heim jetzt einen Freund hab und ich ihn beruhigen musste: „Keine Sorge, der ist fünf Köpfe kleiner als Du und hat grade seinen hundersten Geburtstag gefeiert!“ lacht Mutti so heftig, dass der Tabletttisch über ihrem Bauch anfängt zu wippen. Mutti ist heute sehr klar, was ich bei ihr am Sprechen merke, aber körperlich etwas matt, was ich auf die Wetterlage schiebe. Das Frühstück dauert sehr lange, was kein Problem ist, ich merke nur, dass Mutti heute „wie in Zeitlupe“ isst. Aber mit Appetit, es bleiben nur zwei Stückchen über von den anderthalb Scheiben, halt langsam. Und Mutti ist zufrieden. Am Ende packe ich noch wieder eine Schublade Nachthemden aus der Schublade auf Kleiderbügel und hab sogar dabei das Gefühl, dass Mutti zwar matt, aber aufmerksamer als sonst zu schaut. Ein andermal weiß sie nicht mal, was ihre Nachthemden sind, heute erkennt sie ihr bestimmtes lilafarbenes auf Anhieb wieder: „Das gehört mir!“ (Hab ich ihr mal neu nachbestellt, kennt sie also schon länger.) Ein richtig guter Tag. Unspektakulär, aber absolut gut!
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| Thema: Re: Ich entscheide, nicht das Heim Do 31 Mai 2018, 13:07 © Aggi | |
| 20180531 Donnerstagmorgen: Jetzt ist es schon zwanzig nach elf und ich hab seit zehn nach neun, seit ich aus dem Heim zurück bin, nur telefoniert und Papierkram für das Sozialamt erledigt … scheinbar so nebenbei mich selbst auch, ich starre hier auf mein Tagebuch und bin … leer … War wie immer kurz vor acht im Heim und Mutti wirkte „hitzematt“, aber doch ganz gutgelaunt. Aber im Gegensatz zu ihrer gestrigen Klarheit war sie heute sehr „wirr“. Sprach mehrmals von meinem Mann und mir, als wären wir andere Leute. Ich hab dann immer lächelnd zugestimmt. Einmal wollte sie mir was sagen, was dann so rüber kam wie: „Hat die Aggi … die Kartoffel … den Kartoffelsalat … (Mutti muß kichern) … ach nee, ich komm nicht drauf …“ oder so. Da hab ich dann gesagt, mei, bei der Hitze doch kein Wunder, ich sei schon gar nicht mehr klar bei Verstand. Da meinte Mutti dann, die Aggi sei aber bei den Kartoffeln schon noch klar bei Verstand. – DAS fand ich total lieb, weil sie mich ganz klar verteidigt hat!!! Aber egal, wie weit sie heute gedriftet ist, sie hat immerhin die ganzen Scheiben (anderthalb) Brot geschafft und war ansonsten ziemlich „kicherig“ drauf. Und das ist mir tausendmal lieber als wäre sie wieder so traurig wie früher. Und mehr weiß ich nicht – blöder Papierkram! Watt’n Glück, dass dieser ganze Bürokratie-Bockmist nicht zur Pflege dazu zählt, sondern eine rein masochistische Sache-Dings ist…
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| Thema: Re: Ich entscheide, nicht das Heim Do 31 Mai 2018, 15:06 © soda1964 | |
| Liebe Aggi dein Tagebuch zu lesen ist mir eine liebe Gewohnheit geworden - Zitat :
- DAS fand ich total lieb, weil sie mich ganz klar verteidigt hat!!!
Dies finde ich immer wieder beeindruckend: die "Grundhaltung" eines Menschen bleibt, auch wenn sie durch die Demenz manchmal verdeckt wird, erhalten. Du bleibst immer ihre Aggi Herzliche Grüsse
ThereseMan muss mit Allem rechnen - auch mit dem Guten.
Die wahre Lebenskunst besteht darin, im alltäglichen das Wunderbare zu sehen. Pearl s. Buck
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| Thema: Re: Ich entscheide, nicht das Heim Fr 01 Jun 2018, 04:08 © Aggi | |
| Liebe Therese, Danke für Deine lieben Worte! - soda1964 schrieb:
- Dies finde ich immer wieder beeindruckend: die "Grundhaltung" eines Menschen bleibt, auch wenn sie durch die Demenz manchmal verdeckt wird, erhalten.
Bedingungslose Liebe erfahren ... das ist möglich mit Demenz! LG, Aggi
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| Thema: Re: Ich entscheide, nicht das Heim Sa 02 Jun 2018, 04:31 © Aggi | |
| 20180601 Freitagmorgen: Heute um zehn Uhr vormittags hatte ich den Termin beim Sozialamt, um zu besprechen, wie es in Muttis Angelegenheit weitergeht. Vorher war ich morgens wie immer bei Mutti. Die Sachbearbeiterin im Sozialamt fragte mich später tatsächlich: „Sind Sie wirklich jeden Tag bei ihrer Mutter?“ Keine Ahnung, ist das so erstaunlich? Hab ihr nochmal gesagt, dass ich Mutti liebe und ja Frührentner bin. Weiß nicht, bei solchen Fragen hab ich immer im Kopf, wenn es stattdessen um mein Baby ginge, würde diese Frage nicht kommen... Mutti sah heut früh richtig matt aus. Wen wundert’s bei dem Wetter? Wir kriegen hier einfach keinen Regen, das bisschen in der Nacht war ja nur ein Hauch. Aber es geht ihr gut. Erst hatte ich noch mit ihr geplaudert, wie sehr ich mich erstmals auf einen Behördentermin freue und sogar schon überlegt hatte, der Sachbearbeiterin einen Fleurop-Strauß zu schicken. Da war Mutti am Lachen. Mutti hab ich alles soweit erklärt, dass ihre Finanzen in Ordnung sind und sie sich um nichts Sorgen machen muss. Ich würde mich tatsächlich um ihren Papierkram akkurater kümmern als um meinen eigenen. Da hat Mutti wieder gelacht! Hab ihr auch erzählt und das ja nicht zum ersten Mal, dass dann endlich das Wehklagen der Großen Schwester, sie sei ja die einzige leibliche Tochter, die ans Sozialamt zahlen müsse, ein Ende hätte. Mutti: „Die spinnt doch!“ Zum Frühstück war Mutti dann „verspielt“. Keine Ahnung, heute war sie mit dem kleinen Milchkännchen zugange. Immer wieder und wieder. Ich fand es herrlich. Das ist so ein klitzekleines Metallkännchen, wo grad so viel Milch rein passt, wie Mutti für ihren Becher Kaffee braucht. Wenn ich ihr Tablett aus dem Dienstzimmer hole, schütte ich dort die Milch in den Becher und fülle dort den Kaffee auf, da die Kaffee-Thermoskannen im Dienstzimmer verbleiben. Also steht das Milchkännchen dann leer auf Muttis Tablett. Und heute war Milchkännchen-Ausprobier-Stunde. Immer wieder hat Mutti das Kännchen abgetastet und wohl gesamt fünfmal draus getrunken. Das Ding sieht auch einfach zu süß aus und das sagte ich dann auch mal zu Mutti und Mutti meinte sinngemäß, als wäre es aus ihrer „Kinderstube“. Und hat so schön gelächelt dabei! Dann haben wir das Kännchen in Gedanken mit Gänseblümchen befüllt. „Oh Mutti, da brauchen wir aber ein paar mehr, so breit wie die Öffnung ist.“ – Mutti lachend: „Oh ja!“ Dann kam noch unsere „Sr.“ La. und irgendwie kamen wir auf Gemüse-Anbau im Garten. La. erzählte uns so süß, wie sie, als ihre beiden Mädchen noch klein waren, Tomatensträucher noch mit kleinen, noch ganz grünen Tomaten im Garten hatte. Ihre kleinen Mädchen wollten die unbedingt schon essen und waren traurig, dass das nicht geht. Da ist La. in den Laden, hat Cherry-Tomaten gekauft, auf die Sträucher gelegt und ihre Mädchen gerufen: „Kommt her, jetzt sind da rote Tomaten. Die dürft ihr essen!“ Und wie lecker die dann waren! Mutti muss ich die Geschichte nachher nochmal erzählen, aber alleine das La. so schön erzählt und lacht, löst bei Mutti einen Redeschwall aus. Viel Kauderwelsch, aber auch La. hat ein immenses Einfühlungsvermögen und so hören wir beide Mutti zu, die uns erzählt, wie sie und ihre Mutter früher „dem Kindergarten Tomaten verkauft haben … so in einem … (sie zeigt mit den Händen einen rechteckigen Obstkorb und ich helfe ihr mit dem Wort aus) … ja, im Obstkorb haben wir dann die Tomaten zum Teufelssee getragen … (Pause)“ – La. sagt: „Das war bestimmt sehr schön!“ und Mutti lächelt und sagt: „Ja, das war so schön!“ Und La. bleibt wirklich so lange, denn so schnell hat Mutti das ja nicht erzählt, wofür ich La. so dankbar bin, denn mir ist doch klar, wie wenig Zeit sie eigentlich als Reinigungskraft hat. Aber La. lacht und sagt, sie findet solche Geschichten doch selber schön! Und Mutti ist super-glücklich! Ihr hättet sie sehen müssen, wie sie gestrahlt hat! Jo. Und dann beim Sozialamt alles geklärt. Mutti benötigt dank Sozialamtsintervention nur für den Zeitraum Dez. 2017 bis Februar 2018 Sozialhilfe, ab da kommt sie mit ihrer eigenen Rente klar. Die Restschuldenfrage ist in Arbeit und sollte sich auch noch regeln - ich drücke stetig weiter die Daumen, das auch das olle Haus irgendwann "weg" ist. Wenn ich es dürfte und es nicht nach Bestechung aussähe, tat ich der Frau dort wirklich einen Fleurop-Strauß schenken. Hab ich ihr auch gesagt. War ein fantastisches Gespräch auf Augenhöhe! Und dann in der Schwüle noch weiter einkaufen und nochmal zum Heim (Elisbeth waren die Zigaretten ausgegangen – da MUSS ich doch helfen!). Und nochmal zu Mutti, inzwischen ist es schon nach zwölf Uhr mittags, aber im Flur sagt mir noch Sr. D., Mutti sei so gut zufrieden und so sieht sie dann mittags auch aus! Dann können wir nochmal schön klönen und beim Rausgehen konnte ich wie immer noch Muttis Lächeln mitnehmen. Zuhause dann voll verschwitzt die ganzen Notizen zum Sozialamtstermin aufgeschrieben - immer schön alles schriftlich fixieren, falls ich mal Rechenschaft ablegen muss. Und least eine Email an alle Geschwister, damit die Dussel unter ihnen Entwarnung haben, dass sie nicht für Mutti zahlen müssen. Wo sie sich schon nicht kümmern, wäre das ja unfair... Und dann kommt endlich das Gewitter und bringt Abkühlung und ich kann mich nur mit Mühe beherrschen, mich nicht draußen platsch in den Regen zu schmeissen und auf der Landstraße ein paar Runden Freischwimmer zu machen - Götter sei Dank! Endlich der langersehnte Regen!
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| Thema: Re: Ich entscheide, nicht das Heim So 03 Jun 2018, 05:34 © Aggi | |
| 20180602 Samstagmorgen: Zehn vor acht im Heim kommt mir im Flur schon meine gute Seele Elisabeth entgegen, sichtlich gutgelaunt! Bei der Gelegenheit erzählt sie mir, dass sie gestern Nachmittag noch bei Mutti im Zimmer war, ihr ein paar Rosen gebracht hat. Elisabeth ist ein Engel! – Dafür schimpft sie mit mir, weil ich gestern bei ihrem Einkauf keinen Tabak für mich gekauft hat. Hatte sie sogar auf den Einkaufszettel mit draufgeschrieben und mich noch extra ermahnt!!! „Elisabeth, ich war einfach viel zu kaputt und alle gestern … aber ich lauf Dir ja nicht weg!“ ^^ (Dieser Frau entgeht einfach gar nichts *gg*). Weiter zu Mutti, die friedlich im Bett liegt und mich mit meinem Namen begrüßt. Dann, als wir noch klönen (ich erzähl halt vom Vortag) fragt sie, ob die Aggi den Ring … also den Siegelring … (sucht nach Worten und findet sie nicht) … und ich helf aus und sag ehrlich, Du, im Moment weiß ich gar nicht, was Du meinst. Mutti setzt nochmal an, ob der Siegelring denn jetzt weitergegeben wurde und ich antworte, Du, da ist bestimmt alles in Ordnung und das ist dann die richtige Antwort für Mutti, seh ich an ihrem Gesicht. Mutti erzählt auch, dass sie die Nacht „zuhause“ war. Aber „die“ (sie meint die Schwestern) wüssten schon, wo sie abzuholen sei. Aber komisch sei es schon gewesen. Ist aber nicht beunruhigt, also belasse ich es dabei. Erstmal Frühstück holen, wo Mutti meint, das hätte Aggi vorhin schon geholt, da kann ich dann sagen, heute ist mein Glückstag, die Schwestern haben wohl gesehen, dass ich schwächel und das Tablett bestimmt extra für mich alte Frau in den Flur gestellt, damit ich nicht so weit laufen muss! Mutti lacht so schön, sie liebt es, wenn ich mich „alt und kröpelig“ gebe! Das bringt sie immer köstlich zum Lachen, weil ich dazu ja immer meine Faxen mache, als wär ich mindestens schon 793 Jahre alt… Beim Frühstück fragt sie dann, woher die Tabletten kommen. „Du, die stellen die Schwestern jeden Morgen für Dich auf Dein Tablett. Die nimmst Du ja schon lange. Die sind gut für Dich. So wie Deine Magentabletten morgens und abends.“ Scheint Mutti zu befriedigen, die Antwort, aber mit ihrem Kaffeebecher hat sie heute Probleme, da helfe ich dann jedesmal. Als hätte sie vergessen, wie man die Tasse hält. Sie nimmt sie in die Hand und dreht sie dann, so dass der Schnabel von ihr wegwandert und dann verharrt sie und vergisst den Becher. Aber mit kleinen Berührungen kann ich ihr sanft auf den richtigen Weg helfen, nur kleine Gesten, den Rest schafft sie dann selbst. Abstellen auf den Tisch mache ich dann. Auf alle Fälle schafft sie den ganzen Teller Brot und fast den ganzen Becher Kaffee. Und nach dem Essen bitte ich noch um Erlaubnis, ihre Fingernägel saubermachen zu dürfen. Ich darf. „Mutti, ist ja Samstag und ich weiß ja nicht, ob Du heut Nacht noch mit Elisabeth in die Disco willst?!“ Mutti lacht so schön! Als sie sich dann auf die Seite gemummelt hat, meint sie zu mir: „Und heut Abend werde ich wieder gewaschen und dann >>Gute Nacht, schlafen Sie schön!<<. Dabei weiß ich gar nicht, wohin sie mich Nachts immer bringen. Können die aus (Heimatort) oder (Heimatort ihrer Mutter) mich überhaupt finden?“ „Mutti, die können alle doch auch mich fragen! Sind doch alle schon groß. Und wer nicht fragt, will wohl auch nicht vorbeikommen. Der hat dann selbst schuld!“ – Jo, Mutti stimmt mir lächelnd zu. Wiederholt: „Die haben dann selbst schuld!“ Ich hoffe und wünsche ihr, dass nicht wieder neue Ängste wie „Wo bin ich?“ – „Wo bringen die mich hin?“ bei ihr aufkommen. Eigentlich hatte ich gehofft, die Phase läge hinter uns. Aber unglücklich wie damals bei ihr zuhause wirkte sie nicht. Mal schauen. Es war eine fürchterliche Hitzewelle, die hat ja jeden arg belastet. Ach, meine Mutti, ich möchte nicht, dass Du nochmal Angst haben musst…
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| | | kamia Ist hier Zuhause
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| Thema: Re: Ich entscheide, nicht das Heim So 03 Jun 2018, 08:49 © kamia | |
|
mit lieben Grüßen Wenn jemand sagt: Das geht nicht! Denke daran: Das sind seine Grenzen, nicht deine.“ (Unbekannt) |
| | | Aggi Ist hier Zuhause
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| Thema: Re: Ich entscheide, nicht das Heim Mo 04 Jun 2018, 04:34 © Aggi | |
| Liebe Karin, - kamia schrieb:
-
- Zitat :
- Ach, meine Mutti, ich möchte nicht, dass Du nochmal Angst haben musst…
das wünsche ich ihr so sehr. Du tust mir gut. Und damit auch der Mutti! Ich erzähle Mutti ja immer wieder von Euch allen, auch von Dir und Deinem Mann. Wenn ich ihr von Dir erzähle, macht sie immer große Augen und ich frage mich immer, ob es damit zusammen hängt, dass sie diese Form der Liebe so ja nie erfahren durfte ... keine Ahnung, aber sie findet es schön, wie liebevoll Du Dich kümmerst! Euch beiden alles Liebe, Aggi ++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++ 20180603 Sonntagmorgen: Heute Morgen beim Heim hängt auf dem Weg zum Haupteingang ein blaues Absperrband und auf dem Boden eine grosse blaue Plane – OMG, ein Wasserschaden? Kommen da die Steine hoch? – Aber als ich den Wagen geparkt habe und näher gehe, sehe ich unter der Plane einen Blumenteppich. Kombiniere einen Zusammenhang zu den weißen Fahnenhaltern am Wegesrand – aber wir hatten doch schon Fronleichnam?! Meine gute Seele Elisabeth klärt mich auf, hatte ich vergessen. Fronleichnam wird hier in Niedersachsen vielerorts sonntags nachgefeiert, weil kein offizieller Feiertag. „Sei ehrlich, Aggi, Du hast schon gedacht, ich hätte heute extra Blumen für Dich gestreut!“ *gg* Man man man, ich werde alt. Bei mir im Dorf war Donnerstag festlich geschmückt worden. Da soll man nicht in Tüdel kommen, ich hatte Fronleichnam schon abgehakt… Weiter zu Mutti, die sich freut, mich zu sehen und streckt die Hand nach mir aus, die ich natürlich sofort ergreife. Händchenhalten machen wir jetzt viel. Und dann kann ich gleich die Grüße von Elisabeth ausrichten und von dem schönen Blumenteppich erzählen. Aber keine Chance, Mutti zu bewegen, zur Feier des Tages mal mit rauszukommen. Ich hatte gestern noch wieder wegen einer möglichen Rollstuhlfahrt angefragt. Das war dann mal die Antwort Richtung, können wir ja mal, nur nicht heute. Später beim Nachthemden weghängen stelle ich dann fest, dass sogar immer noch Muttis Winterhausschuhe unterm Nachttisch stehen. Ich hab sie ja fast täglich in der Hand, heb sie hoch, wenn La. zum Wischen kommt, aber denke schon gar nicht mehr drüber nach – Mutti verläßt das Bett ja gar nicht mehr. Aber heute tausche ich doch mal ihre Winter- gegen die Sommerhausschuhe aus. Mit zeigen und so. In ihrer Erinnerung ist Mutti bei ihren – sind schon soooo lange entsorgt – alten weißen Hausschuhen stehengeblieben. Aber wir lachen über diesen Fauxpas: „Mutti, also nee, stehen da noch Deine Lammfell-Hausschuhe. Bei dieser Hitze. Das geht ja man gar nicht!“ Und Mutti stimmt lachend zu. Dann zeige ich ihr ihre Sommerhausschuhe. Einfach der Abwechslung wegen. Ich sehe, dass sie sie gar nicht erkennt. Diese Version hat sie erst seit ca. 4 Jahren. Das Frühstück heut Morgen geht sehr langsam, aber Mutti schafft das ganze Brot, anderthalb Scheiben und den ganzen Becher Kaffee. Danach ist sie aber auch richtig groggy. „Ist anstrengend, nicht wahr?!“ – „Oh ja!“ Zum Ende kämme ich Mutti noch die Haare, hat ja auch viel von Kopfstreicheln. Ist einfach schön! Und zum Abschied bring ich Mutti noch zum Grinsen, indem ich sag, falls Du nachher noch „geistliche Gesänge“ hörst, sei nachsichtig mit den Katholiken! (Ich möchte nicht flappsig rüberkommen, ich wollte Mutti halt nochmal dran erinnern, dass heute Fronleichnam nachgefeiert wird.) Draußen bleib ich dann noch etwas bei meinem völlig aufgewühlten Freund. Auf irgendwas ist er böse, ich hör ihn schon von weitem lautstark schimpfen und geh zu ihm in die Hocke, ob ich ihn beruhigen kann. Keine Ahnung, ich halte einfach seine Hand und sag nur Zustimmendes und Positives, aber erst meint er, auch ich gehöre zu den Bösen. Dann entdeckt er zufällig meine Tattowierung auf dem Arm und ist endlich abgelenkt - ich denk ja nicht mal über das Ding nach, aber da freu ich mich, das ich sie hab! Und schliesslich nennt er mich eine Prinzessin und: „Wir halten zusammen!“ und „Alles Gute!“. Und draußen wird so schön geschmückt, dass ich Lust bekomme, teilzunehmen, aber lieber nicht, ich muss meine Kräfte einteilen. Klöne draußen noch kurz mit Elisabeth und Frau H. und dann heim.
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| Thema: Re: Ich entscheide, nicht das Heim Di 05 Jun 2018, 06:30 © Aggi | |
| Ich hoppel im Moment der Zeit hinterher. Diese Tagebucheinträge schreibe ich immer recht bald, nachdem ich von Mutti wieder zuhause angekommen bin, weil ich möglichst nichts vergessen will. Und krieg dann nicht die Kurve, sie hier auch direkt einzustellen. So wie gestern wäre ich am liebsten schon mittags um zwölf ins Bett gegangen. Nur noch müde... ich muss irgendwas finden, damit ich wieder die Kurve kriege und mich selbst an meinem Haarschopf wieder aus dem Trübsalwasser ziehe! ++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++ 20180604 Montagmorgen: Zehn vor acht am Heim steht draußen schon meine gute Seele Elisabeth und grinst mir entgegen. Der ganze schöne Blumenteppich der Fronleichnamsfeier vom Vortag liegt wie ein Trümmerhaufen in einer Schubkarre, irgendwie ein seltsames Bild. Elisabeth schimpft, das hätte sich dann gestern noch so lange hingezogen, sie war dann nicht mehr hin, sondern wäre in ihr Zimmer und hätte abgeschlossen, damit sie auch ja keiner nerven kann. Sollte um elf Uhr stattfinden, dann sollten halb zwölf doch noch alle schnell rein zum Mittagessen reinschaufeln, also nee, nee, nee … Aber Elisabeth meint auch, sie war schon so oft bei solchen Prozessionen, sie braucht das einfach nicht mehr. – Und klar fahre ich heute noch einkaufen! Kein Thema, Elisabeth! Erstmal weiter zu Mutti, die ganz zufrieden im Bett liegt und gemütlich kauderwelscht. Daraus entnehme ich, dass sie noch schläfrig ist. Aber mit meinen Klönereien und zum Lachen-bringen hat sie dann auch Lust auf Frühstück, wo ich sie weiter mit meinen Geschichten beriesel. Mutti lässt sich ihr Brot schmecken und wieder fällt mir auf, dass sie manchmal den Teller so mit den Fingern abtastet, als würde sie gar nichts mehr sehen. Aber irgendwie wandern ihre Finger auch immer so spielerisch über das ganze Tablett, jedenfalls, soweit sie sitz-liegend überhaupt kommt, nimmt alles in die Hand, heute auch die Schale mit dem Wackelpudding, was ja auch alles Formen von „Erleben“ sind. Ich sitze eigentlich nur dabei und helfe höchstens, wenn es Not tut und plauder ansonsten weiter oder erspüre, ob sie grad was braucht – z.B. Hilfe mit dem Kaffeebecher. Es ist alles so ruhig und friedlich, reduziert auf das Wesentliche. Zufrieden-Sein. *Später fahre ich ja noch einkaufen und Mutti muss sehr lachen, als ich sie frage, ob ich ihr – wie Elisabeth – auch Parfüm mitbringen soll. Auch kein Lidschatten? Lippenstift oder Nagellack? Mutti lacht so schön! Also sag ich, o.k., man kann sich, wenn der Lippenstift alle ist, die Lippen ja noch mit Roter Beete färben. Mutti grinst und meint: „Ich glaub, ich esse nie wieder Rote Beete!“ Als ich dann kurz nach elf wieder bei Mutti bin, wirkt sie so gelöst. Ich sag auch zu ihr: „Du wirkst richtig glücklich.“ Sagt Mutti: „Ich hatte ja schon die Grüße von Elisabeth.“ (hab beim Reinkommen natürlich erwähnt, dass ich grad noch bei Elisabeth war, die Einkäufe abgeben, den Gruß hatte ich morgens ausgerichtet). Und Mutti fährt fort: „Und Aggi war ja auch schon da.“ – Und weiter: „Ach ja, die sitzt ja immer noch bei mir.“ Da erzähl ich ihr noch, dass ich jetzt sogar eine Prinzessin bin, seit gestern, hat mein Freund mich doch so genannt und erzähle die Geschichte vom Vortag. Mutti lacht und lacht noch mehr, als ich ihr sag, wenn ICH Prinzessin bin, bist DU jetzt eine Königin! Mutti schüttelt den Kopf, aber lacht und lacht! Und dann verabschiede ich mich von Ihrer Hoheit und Ihro Durchlaucht meint, wenn ich was anderes zu tun hab, müsse ich morgen aber nicht wiederkommen. Sag ich, ich komme aber doch so gerne, ob ich denn darf? – Natürlich darfst Du! *Und heute morgen kann ich dann bei Karins Thread nachlesen, dass das "Taktile und Somatische Reize" sind - und die holt sich Mutti selbst! Eine kluge Frau, die den Teil ihrer Kinder Lügen straft, die so oft über sie gesagt haben, sie sei doch zu blöd: https://www.demenzforum.net/t7664-aktivierung-fur-bettlagerige-schwerstpflegebedurftigeBasale Aktivierung...
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| Thema: Re: Ich entscheide, nicht das Heim Mi 06 Jun 2018, 06:25 © Aggi | |
| 20180605 Dienstagmorgen:
Kurz vor acht am Heim steht meine gute Seele Elisabeth draußen am Rauchen und ich grüße sie schon fröhlich von weitem. Sie fragt, wie es mir geht und ich sag, als wäre ich völlig fertig: „Gar nicht gut! Hab heut Nacht im Traum zwei meiner künstlichen Zähne verloren und musste ein 1x1 Millimeter grosse Stück auf dem Fußboden mit der Taschenlampe suchen. Bin völlig erschlagen!“ – Elisabeth grinst und meint, sie hätte heut Nacht bei sich im Haus im großen Wintergarten sämtliche Fenster geputzt. *gg*
Beim Reingehen steckt sie mir noch rasch, dass Frau H. gestern endlich die Pflegedienstleiterin erreicht hätte. Frau H. wollte sich bei der ja immer noch für das Handy bedanken. Leider hat die PDL dann sofort gesagt, ich hätte das ja bezahlt. Hatte wohl einen schlechten Tag, meine ich, eine kleine Notlüge hier hätte doch nicht geschadet. Elisabeth deutet an, dass es gestern im Personal wohl ein Stresstag war, als seien da die Fetzen geflogen. Genaueres weiß Elisabeth auch nicht, aber sie hätte sich gestern deshalb bewusst zurück gehalten.
Mal gucken, ich schau nachher noch bei Frau H. vorbei. Ich hatte ihr den Tag schon gesagt, dass das Handy von mir ist und dann eine Spende ans Pflegeheim wird … wenn sie eines fernen Tages, frühestens in 50 Jahren mal nicht mehr ist. Aber Frau H. war den Tag so glücklich gewesen, dass sie das wohl falsch verstanden und gedacht hatte, es sei ein Geschenk vom Pflegeheim. Hat mich gar nicht weiter gestört, ich wollte nur was Gutes tun, keinen Lorbeerkranz damit gewinnen.
Erstmal zu Mutti, die mich begrüßt mit, sie sei schon gewaschen und gebügelt! Ich richte wie immer die Grüße von Elisabeth aus, über die sich Mutti ehrlich freut! Und beschreibe Mutti dann en detail meinen merkwürdigen Traum: „Kennst Du das, wenn ein Traum so realistisch ist, dass man noch beim Aufwachen glaubt, es sei echt?“ – „Oh ja!“
Währenddessen klingelt es dann und eine Schwester, die ich auch noch nicht gesehen habe, bringt uns das Frühstückstablett. Ich bedanke mich und sag gleich, hätte ich doch auch gemacht, aber sie winkt lächelnd ab. Sagt extra dazu, sie hätte den Deckel vom Kaffeebecher noch nicht drauf gemacht, damit der Kaffee besser abkühlt. – Gute Schwester, das sind die Details, auf die es ankommt! ^^
Während ich Muttis Kopfteil fürs Essen dann hochfahre, meint Mutti mal nicht, nicht so hoch. Das sagt sie oft, bloß nicht zu hoch das Kopfteil (mit ängstlicher Stimme). Sagt oft dabei, das schnürt ihr sonst die Kehle ab. Ich mache es längst so, dass ich immer in Etappen hochfahre. Das funktioniert ganz gut und auf keinen Fall zu steil, ist also wirklich eher eine lieg-sitzende Position. Ihre Angst nehme ich oft mit Scherz-Sätzen wie: „Ich fahre jetzt das Kopfteil hoch, damit Du gleich nicht unter dem Teller liegst.“ Mutti fängt dann immer an zu kichern und entspannt sich.
Heute sagt sie beim Essen und Tasten nach den Brotstücken, als der Teller schon ziemlich leer ist, mal selbst, als sie ins Leere tastet, sie sehe kaum noch was, ihre Augen würden verdrehen. Das hat sie noch nie zu mir gesagt. Ich sitze ja die ganze Zeit auf dem Rollator dicht mit am Tablettwagen und schiebe unmerklich die Stücken immer in Sichtweite, am besten immer an den Rand – naja, je nachdem, wie voll der Teller noch ist. Hab auch schon oft überlegt, dunkelfarbige Teller zu besorgen, um den Kontrast zu erhöhen, aber dann müsste ich jede Mahlzeit vor Ort sein und das schaffe ich nicht…
Nach dem Frühstück und Plaudereien über Tierfilme (ich hab meine fischige Phase, Haie, Delfine, wird aber nicht langweilig!), und ich mich grad schon verabschieden will, seh ich, dass Mutti Brotreste zwischen den Zähnen hat. Ich bin mir sicher, dass das morgendliche Zähneputzen desöfteren vergessen wird, finde aber, es gibt Schlimmeres und so bitte ich Mutti um ihre Zähne und putze ihr Gebiss noch. Trifft sich gut, ihre Zahnpastatube im Bad ist so gut wie leer und bei Mutti mach ich mal nicht die Nummer mit bis-auf-den-letzten-Rest-ausquetschen sondern hol eine neue Tube aus dem Schrank. Gestern Mittag hab ich da noch ein Pappschild aufgehängt: „Reserve-Hygieneartikel“. 90 Cent für einen Einwegrasierer oder 1,50 Euro für eine einzige Packung Feuchttücher seh ich nicht ein, da kauf ich das Zeug lieber günstiger von meinem Geld und weiß, es ist immer Nachschub da.
Und jetzt hat Mutti wieder die Zähne schön (sie lacht, dass ihr Gebiss richtig klappert) und dann geh ich noch weiter zu Frau H.
Die liegt um diese Zeit (kurz nach 9) meist noch in ihrem Zimmer auf dem Bett und freut sich über meinen Besuch. Ich bleibe eine halbe Stunde bei ihr. Eine schöne halbe Stunde. Frau H. fängt an mit ihren Sorgen, warum sie überhaupt noch lebt. Mit 93 Jahren ohne Freunde (alle schon tot) und einem Sohn, der Hochverrat an ihr begannen hat und sich jetzt nicht mehr meldet eine berechtigte Frage. Aber ich gebe mir große Mühe, alle Register zu ziehen, damit sie noch etwas Positives sehen kann. Sie ist so eine kluge, taffe Frau, die kein Blatt vor den Mund nimmt und gegen Ende zeigt sie mir noch den Spruch, den ihr ihr Vater im Januar 1935 in ihr Poesiealbum geschrieben hat. Hängt wunderschön eingerahmt an der Wand. In Sütterlin. „Aggi, kannst Du Sütterlin lesen?“ – Ja, kann ich, aber die Handschrift ihres Vaters ist nicht leicht zu lesen, also sagt mir Frau H. die Zeilen auswendig vor. Am Ende habe ich eine Gänsehaut am ganzen Körper. Halte noch den Bilderrahmen in der Hand und sag einfach nur: „Ich muss den wieder aufhängen, ich sabber da gleich drauf.“ Nix bei gedacht, isso. Aber Frau H. bricht sowas von in Lachen aus – manchmal macht man ja sogar aus Versehen Freude!
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| Thema: Re: Ich entscheide, nicht das Heim Do 07 Jun 2018, 06:02 © Aggi | |
| 20180606 Mittwochmorgen: Zehn vor acht am Heim pack ich meine große Kiste aus dem Auto und schlepp mich erstmal in Elisabeths Zimmer, drei 4er-Packungen Babyfeuchttücher und die wöchentliche Fernsehzeitung ablegen. Weiter zu Mutti, die gelbe Lampe brennt noch, ist die Wäsche noch in Gange. Die Schwester fragt mich, sie wolle Mutti noch die Haare waschen, ob sie bis nach dem Frühstück warten soll. Ich sag, ich komme halt jeden Morgen und möchte alles, nur nicht im Wege stehn. Sie soll man so machen, wie sie am besten meint. Ist dieselbe Schwester von gestern, hab ich noch nicht gesehen, war wahrscheinlich noch nicht bei Mutti. Ich stell erstmal meinen Korb mit den Sachen für Mutti und die nächste Tüte Kleiderbügel auf den Tisch und geh an Muttis Bettseite, ob ich helfen kann. Beim Haarewaschen, an- und ausziehen sind ja die kleinsten Handreichungen schon gut für eine Schwester, die sonst alles alleine machen muss bei einem komplett bettlägrigen Bewohner. Beim Haarefönen stöhnt die Schwester, während ich Muttis Kopf hochhalte, über den mauen Fön und ich kann ihr verraten, dass Mutti ihren eigenen, guten Fön im Schrank hat. Der bringt dann gleich Turbo in die Sache und bei den letzten Handgriffen kann ich dann noch eben mein Gedöns für Mutti in den Schrank packen. Die Schwester bietet noch an, das Frühstückstablett zu bringen, aber ich sag, dass mache ich gerne selbst, Mutti und ich würden erstmal klönen, so kann Mutti kurz verschnaufen. Mutti ist auch sichtlich geschafft, ihre Gesichtsfarbe hat denselben Rosa-Ton wie ihr Nachthemd, aber sie ist zufrieden. Also plaudern wir erst gemütlich – ich erzähle halt vom Vortag – und dann geh ich das Frühstück holen. Heute mal eine ganze Scheibe mit feiner Leberwurst und eine halbe mit Käse. Feine Leberwurst mag Mutti auch sehr gerne! Wie so oft fragt sie mich, was oder ob ich auch mitesse. Und wie so oft sag ich ganz ruhig, Du, ich bin doch die, die nie frühstückt. Mal grinst Mutti dann und mal meint sie, sie würde mich gerne überreden, auch zu frühstücken. Das hat sie schon nicht verstanden, als sie noch auf dem Damm war. „Wie kann man den Tag ohne Frühstück anfangen? Ohne Frühstück würde ich jemanden anfallen!“ hat sie oft zu mir gesagt. Und genauso oft hab ich grinsend gesagt, schau Mutti, jetzt bin ich damit schon so alt geworden, ganz so falsch kann mein Weg ja auch nicht sein. ^^ Während Mutti isst, schnappe ich mir mein Liederbuch aus ihrer Nachttischschublade und erzähl Mutti, dass ich den Text von „Hoch auf dem gelben Wagen“ vergessen habe. „Kiek, Mutti, so ein blödes Buch, da steht das Lied ja gar nicht drin.“ Mutti kichert. „Muss ich jetzt wohl Walter Scheel anrufen. Lebt der eigentlich noch?“ Mutti kichert und meint, der konnte gut singen! Und da ich diesen Ohrwurm „Wie geht der Text von Hoch-auf-dem-gelben-Wagen“ nicht loswerde, frag ich Mutti, ob sie sich noch an die Quatschlieder erinnert, die wir Kinder früher im Auto so gerne gesungen haben, wenn wir zum Ponyhof gefahren sind. Erzähl ausführlicher mit Namen und so. Mutti erinnert sich lächelnd. „Oh ja.“ Ich fang an zu singen: „Auf einer Tonne, Tonne, Tonne, da saß `ne Nonne, Nonne, Nonne, `ne ganze Fromme, Fromme, Fromme, aber quiiiiiiietschfidel! Sie war fidel, fidel, fidel, auf einem Auge war sie schiel, `ne ganze Fromme, Fromme, Fromme, aber quiiiiietschfidel!“Mutti lacht sich scheckig! Ein besseres Publikum krieg ich in diesem Leben nicht mehr, also sing ich noch zwei Strophen mehr, mit der Leiche und der Elbe und Mutti kringelt sich vor Lachen im Bett. Und sagt hinterher, sie kann sich überhaupt nicht dran erinnern! Ihr Gesicht straft sie Lügen, however. Sie grinst von einem Ohr zum andern und ich singe noch „Gies-Gies-Kanne“ und Mutti kommt aus dem Lachen nicht mehr raus. Was haben wir Geschwister diese Lieder gesungen. Diese Momente, wo wir alle eins waren. Und ich denk, beide Eltern haben es auch genossen, denn da gab es keinen Raum für Streit oder sonstiges Unbehagen! Und Mutti erinnert sich daran! Als ich singe jedenfalls. Das war mal so richtig ausgelassen einfach nur schön! Für uns beide! Ich singe noch, als ich aus dem Heim rausgehe … „Auf einer Elbe, Elbe, Elbe, da schwamm dieselbe, selbe, selbe, `ne furchtbar gelbe, gelbe, gelbe, aber quiiiiiiiiietschfidel!“
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| Thema: Re: Ich entscheide, nicht das Heim Do 07 Jun 2018, 12:36 © Ann | |
| - Zitat :
- Das war mal so richtig ausgelassen einfach nur schön! Für uns beide! Ich singe noch, als ich aus dem Heim rausgehe … „Auf einer Elbe, Elbe, Elbe, da schwamm dieselbe, selbe, selbe, `ne furchtbar gelbe, gelbe, gelbe, aber quiiiiiiiiietschfidel!“
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| Thema: Re: Ich entscheide, nicht das Heim Do 07 Jun 2018, 12:43 © Belle | |
| - Aggi schrieb:
Mutti lacht sich scheckig! Ein besseres Publikum krieg ich in diesem Leben nicht mehr, also sing ich noch zwei Strophen mehr, mit der Leiche und der Elbe und Mutti kringelt sich vor Lachen im Bett.
Ich kenn das überhaupt nicht Was für ein schöner Start in den Tag! Lachen tut wahrlich gut - ich gönne es euch von Herzen. Mehr!!!! |
| | | kamia Ist hier Zuhause
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| Thema: Re: Ich entscheide, nicht das Heim Do 07 Jun 2018, 18:54 © kamia | |
| - Zitat :
- Hab auch schon oft überlegt, dunkelfarbige Teller zu besorgen, um den Kontrast zu erhöhen
damit ging's bei uns besser
mit lieben Grüßen Wenn jemand sagt: Das geht nicht! Denke daran: Das sind seine Grenzen, nicht deine.“ (Unbekannt) |
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| Thema: Re: Ich entscheide, nicht das Heim Fr 08 Jun 2018, 04:09 © Aggi | |
| Liebe Ann, Du gutes Herz, einmal eine Umarmung für Dich! Und liebe Belle, - Belle schrieb:
- Ich kenn das überhaupt nicht
Was für ein schöner Start in den Tag! Lachen tut wahrlich gut - ich gönne es euch von Herzen. Mehr!!!! vielleicht liegt es daran, dass ich immer schon der "Quatschmacher" in der Familie war, keine Ahnung. Aber ich bin davon überzeugt, jeder hat seine Gaben. Hab grad Deinen Beitrag zur Zuckerreduzierung gelesen und direkt ein schlechtes Gewissen bekommen: Mit Mutti wäre so etwas nicht möglich gewesen ... vielleicht auch, weil ich diesen Ernährungsweg selbst nicht kann? Natürlich auch, weil Mutti da auf stur schaltet plus ihre Magenprobleme (Umstellung auf Obst wäre kontraproduktiv mit ihren Magengeschwüren in der Vorgeschichte...) ... aber wir alle hier haben unsere ganz eigenen Talente und unsere ganz eigenen Wege und darauf kommt es an! Und liebe Karin, - kamia schrieb:
-
- Zitat :
- Hab auch schon oft überlegt, dunkelfarbige Teller zu besorgen, um den Kontrast zu erhöhen
damit ging's bei uns besser
da gibst Du mir jetzt doch nochmal einen Denkanstoss - ich hab keine Ahnung, wie ich das im Heim umsetzen könnte, aber wenigstens zum Frühstück kann ich eine Lösung finden. Hab da schon so eine Idee, mal gucken, muss ja auch hygienisch sein. Danke fürs Feedback und liebe Grüße an Euch Drei! Aggi ++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++ 20180607 Donnerstagmorgen: Viertel vor acht im Heim treff ich im Aufenthaltsbereich meine gute Seele Elisabeth, die ganz gutgelaunt wirkt. Ob ich heute zufällig noch einkaufen muss? (Muss ich nicht, aber klar sag ich ja, soviel Zeit muss sein.) – Corega Tabs und Mundspray. Ich frag extra nochmal nach, ob es auch wirklich Corega Tabs sein müssen. „Unbedingt! Das sind die besten.“ – Okee, von meinem Kl.Bruder weiß ich, Kukident sind die Besten und ich selbst kauf immer die Billigsten, weil ich die nicht für die Zähne, sondern für Blumenvasen nehme. Meint Elisabeth: „Und fürs Klo! Zwei Stück entfernt den Urinstein perfekt!“ (Ich schreibe eine Notiz an mich selbst, nicht mehr die teuren WC-Tabs kaufen, sondern sofort auf Kukident wechseln!) ^^ Weiter zu Mutti, die Wäsche ist schon durch und Mutti ist leicht irritiert, mich zu sehen. „Warst Du nicht vorhin schon da?“ – „Du, ich komm grad rein und soll ganz lieb von Elisabeth grüßen!“ Da muß Mutti lächeln und alles ist gut. Ich klöne noch wieder mit ihr, dass im Moment mein Mann einen Durchhänger hat – aber immer mit Beruhigendem anbei: „Kein Wunder, bei dem Wetter, z.Z. gehen alle in die Knie, mit denen ich so rede!“ Mutti stimmt zu, kauderwelscht, über das Wetter. Als ich wegen Frühstück frage, meint sie, komisch, das hätten heute schon einige gefragt. Ich sag ganz ruhig, ich geh mal gucken, ob ich ein Tablett mit Deinem Namen drauf finde. Wenn ja, bringe ich das mit. Das ist dann eine gute Idee. Aber das Essen (Marmeladen- und Käsebrot) ist heute enorm anstrengend für Mutti. Sie schafft zwar alles, aber schnauft am Ende, als wäre sie fünfmal um das Haus gespurtet. Ich sag mitfühlend: „Alles ganz schön anstrengend.“ zu ihr. Sie bejaht und meint, sie versteht auch nicht, wieso. Ich tröste sie, dass im Moment alle durchhängen vom Wetter her. Ab Mitteldeutschland sei heute Unwetter bis nach Süddeutschland angesagt und wir hier würden dafür die schwüle Hitze abkriegen. „Oh ja.“ Ich fahre also beizeiten ihr Kopfteil wieder runter, damit sie gemütlich mummeln kann und führe ihr meinen „Trick“ vor, wie ich Ersatz-Kukident in ihre Röhren-Aufbewahrungs-Dose-Dings nachfüllen kann, ohne dass die blöden Tabletten verkanten. Mutti ist ganz fasziniert und bei der Sache und lacht mit mir über mein „Talent“. Sowas denke ich mir beim Machen aus dem Steggreif aus – alles, was sie zum Lachen bringt oder Erinnerungen weckt und sie am Leben teilhaben lässt, zählt! Später noch kurz für Elisabeth ins Dorf, der Einkauf geht ja rasch und zurück im Heim dann nochmal kurz zu Mutti, die aber schon sehr schläfrig ist. Als ich dann das Haus verlasse, rollt grad vor mir in ihrem Rollstuhl Frau H. und ich grüße leise von hinten. Frau H. meint sofort: „Aggi, gut dass Du da bist. Es geht um Elisabeth, kannst Du mal mit ihr sprechen? Sie war gestern leichenblaß, da muß was zwischen ihr und der Pflegedienstleiterin vorgefallen sein. Ich mache mir richtig Sorgen, aber mir sagt Elisabeth ja nichts. Ihr zwei habt doch einen guten Draht?!“ Klar gehe ich noch wieder rein und finde Elisabeth im Zimmer ihres Mannes. Warte draußen und als Elisabeth rauskommt, spreche ich sie an, soundso. Elisabeth wird ernst. Es geht um das Rauchen in ihrem Zimmer. Dass sie dort ab und an eine Zigarette raucht, weiß ich schon lange, ist ja nicht zu überriechen. Dafür lüftet Elisabeth auch permanent. Aber jetzt hat die PDL ihre Tochter angerufen und DER gesagt, das würde nicht gehen wegen der neuen Brandschutzverordnung! Elisabeth ist stinksauer. „Noch bin ich nicht entmündigt. Warum spricht die nicht mit mir, sondern ruft meine Tochter an???“ Jo, dergl macht mich auch wütend. Elisabeth wird mir erzählen, wie es ausgegangen ist. Verstehen tu ich es nicht. Elisabeth ist ja nicht irgendwer im Heim, sondern Heimbeirat. Und das mit ihrem Rauchen wurde jetzt schon lange geduldet – warum jetzt ein Anruf bei der Tochter, statt im direkten Gespräch mit ihr? However, als wir dann zu dritt noch draußen stehen, Frau H. ist noch dazugerollt, reden wir gar nicht weiter drüber. Aber Frau H. erzählt von Fersenschmerzen. Die hat sie, seit sie im Heim ist. Die Fußpflegerin wußte keinen Rat. Inzwischen hat sie seit zwei Monaten auch Schmerzen nachts im Bett. – Hmmm, na Hauptsache, die neue Brandschutzverordnung wird eingehalten? Ist gibt Sachen, die ich nicht verstehe. Aber in beiden Fällen war ich auch nicht dabei. Schwierig, schwierig. Ich bleibe ein Träumer, der sich perfekte Verhältnisse wünscht, aber wenn man nicht danach strebt, wird sich doch auch nie etwas ändern, oder? Schwierig, schwierig … wo ist die Grenze, wo man sich was zu sehr zu Herzen nimmt oder wirklich nicht wegschauen darf? Wo ist diese Grenze? Manchmal weiß ich es wirklich nicht und grübel lange über sowas nach...
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| | | kamia Ist hier Zuhause
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| Thema: Re: Ich entscheide, nicht das Heim Fr 08 Jun 2018, 12:26 © kamia | |
| - Zitat :
- ich hab keine Ahnung, wie ich das im Heim umsetzen könnte
ich hatte alles auf ein Holzbrett geschoben, dadurch ging auch das Greifen besser.... evtl. dunkle serviette drunter schieben? Viel Erfolg
mit lieben Grüßen Wenn jemand sagt: Das geht nicht! Denke daran: Das sind seine Grenzen, nicht deine.“ (Unbekannt) |
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