Liebe Lichtblick,
du bist jetzt mit einem "alltäglichen" Zustand der Demenz konfrontiert. Tatsächlich ist es so, dass das Zuhaue, aber auch das Erleben der Kindheit bei einem demenzkranken Menschen immer mehr in den Vordergrund rückt, das hier und jetzt oder vor 20-30 Jahren sitzt auf einer Insel, die für ihn nicht mehr erreichbar ist. Bei meiner Ma war das so, dass sie das Zuhause, in dem sie die letzten 40 Jahre mit ihrer Familie gewohnt hat, nicht mehr als das Zuhause wahrgenommen hat und immer wieder sagte, "gehen wir doch nach Hause". Es hat eine bisschen bei mir gedauert, bis ich kapiert habe, dass sie ihr Kindheitszuhause gemeint hat.
Wie damit umgehen?
Du hast dir eigentlich schon den richtigen Umgang damit gewählt: Ablenken. Allerdings ist das Ablenken manchmal eine frustrierende Angelegenheit, weil es nicht auf Dauer funktioniert, manchmal nur Sekunden anhält und dann geht der Wunsch "nach Hause" wieder von vorne los. Einige haben sogar die Erfahrung gemacht, dass wenn man den/die Betroffene tatsächlich in ihr altes Kindheitszuhause führt, dieses als solches aber nicht mehr erkannt wird. Der Wunsch sitzt also ganz ganz tief in einer Stelle des Bewusstseins, das mit der Gegenwart nicht mehr verknüpft werden kann.
Was hilft?
Zustimmen. Wenn die Betroffene noch mobil ist, mit ihr losgehen Richtung "altes Zuhause", anziehen und losstiefeln, manchmal reicht schon ein Gang über die Station oder in den Garten oder um den Block. Manche Heime haben sogar Busstationen mit Bank und Fahrplan eingerichtet, wo man in Ruhe auf den Bus "nach zuhause" warten kann. Denn der unschlagbare Vorteil der Demenz ist, dass über das Tun und die kurze Erfüllung "es geht los nach Hause", der Wunsch oft schon erfüllt ist und nicht mehr weiter verfolgt werden muss.
Was man nicht tun sollte:
Den Wunsch ausreden oder sagen, das Zuhause gibt es nicht mehr, ihre Eltern seien schon längst verstorben oder ein "Aber Sie sind doch hier zuhause!". Das gibt nur fortwährende Enttäuschungen und Schmerzen, als würde man täglich auf's Neue damit konfrontiert, dass just die eigenen Eltern gestorben sind. Ähnlich sollte man auch nicht bei Halluzinationen umgehen. Wenn jemand seinen verstorbenen Bruder sieht, dann sieht er ihn tatsächlich und das zu akzeptieren, erleichtert ungemein den Umgang damit.
Was man für sich selber tun kann:
Akzeptieren, dass die Ablenkung nicht von Dauer ist. Das ist wohl das schwierigste und frustrierendste. Zu verstehen, dass es kein Patentrezept gibt, sondern dass man jeden Tag auf's Neue kreativ werden muss, um DIE Ablenkungsmöglichkeit rauszufinden. Bewegung, Laufen, zu der nächsten Tätigkeit hingehen --- z.B. zu einem Fotoalbum oder Bild, zum Kartoffelschälen oder Unkrautzupfen oder Umräumen vom Schrank, das ist der Weg, der dir helfen wird, dich auf die Demenz und deine Akzeptanz, dass du kein Patent dafür hast, einzulassen. Wenn du erst mal 20 Mal mit dieser Betroffenen losgegangen bist, ohne Erfolg zu haben und du es trotzdem weiter machst, wirst du eine gewisse Art der Gelassenheit erleben und damit belohnt, dass du für sie da warst, sich auf sie eingelassen hast und Zeit mit ihr verbracht hast. Das ist dein Geschenk an sie.
Was dir noch helfen könnte:
Ich weiß nicht, ob du außer Literatur, unserem Forum und deine bisherigen Erfahrungen noch anderes Wissen hast sammeln können. Mir hat ungemein geholfen, dass ich ein Angehörigenseminar der Deutschen Alzheimer Gesellschaft besucht habe. So war mir jedes noch so komische oder "anstrengende" Verhalten nicht suspekt und ich konnte, statt mich darüber aufzuregen, damit versuchen, einen Umgang zu finden. Hat auch nicht immer geklappt. Aber ein Wissen um den Verlauf der Krankheit hilft sehr sehr sehr.
Hier geht's zur Deutschen Alzheimer Gesellschaft . Ich habe gerade gesehen, die haben schon ordentlich die Seite erweitert, jetzt will ich auch erst mal da stöbern.
Liebe Grüße und danke, dass du dich ehrenamtlich engagierst!
Ute
PS: Das Weinen kam bei ihr übrigens auch immer pünktlich gepaart mit Aggressionen und einer starken Unruhe - fast Punkt 17 Uhr. Irgendwie hat der Körper/Stoffwechsel/Hirn/Psyche sich darauf eingerichtet. Nach einer gewissen Zeit war es dann wieder herum und sie hat ihren Tag ruhig beenden können. Sie hat aber auch 3 x am Tag Beruhigungstropfen bekommen und dazu ein Antidepressivum.
"Und was die Jugend dalässt, ist ein Spiegel. Da guckt man rein und sieht: Man hat keine Eierschale mehr auf dem Kopf. Man hat jetzt eine Frisur."
Martina Holzapfl