Fotograf Michael Hagedorn: „Ich möchte für Menschen mit Demenz einen Perspektivwechsel erreichen“
Weg von düsteren Klischees wie einer reinen Abwärtsspirale, hin zu Offenheit und Schönheit – das sind, im weitesten Sinne, die Ziele von Michael Hagedorn, wenn er Menschen mit Demenz porträtiert. Der Hamburger Fotograf hat seit 2005 schon ca. 50.000 Bilder zum Thema gemacht und ist zudem Initiator von „Konfetti im Kopf“, einer Aktivierungskampagne, die eine breite Öffentlichkeit zu neuen Sichtweisen auf Demenz ermuntern will. Von Freitag, 24. Mai bis Sonntag, 2. Juni steht Hamburg ganz im Zeichen dieser Kampagne, mit großer Open-Air-Ausstellung und vielen Veranstaltungen, an denen auch Prominente wie etwa Ex-„Tagesschau“-Sprecherin Dagmar Berghoff teilnehmen. Pünktlich zum Start des großen Events hat der engagierte Künstler dem CareTRIALOG ausführlich über seine Arbeit berichtet.
Michael Hagedorn bereiste mit seinen Kameras alle Kontinente, bevor er sich verstärkt den universellen Themen des Lebens widmete und sich schließlich auf Themen rund ums Alter, sowie die Darstellung schwierig zu erarbeitender und darzustellender Sachverhalte aus dem sozialen und Gesundheitsbereich spezialisierte. Der 45-Jährige arbeitet für Printmedien wie „Mare“, „Geo“ oder „Die Zeit“ sowie in der Werbung. Er konzipiert und produziert komplette Imagekampagnen für Unternehmen, Stiftungen und Ministerien. Seine freien künstlerischen und Auftragsarbeiten wurden vielfach international ausgestellt und ausgezeichnet.
Seit 2005 arbeitet der Hamburger an der weltweit umfangreichsten Fotodokumentation über Menschen mit Demenz und begleitet dabei Betroffene und ihre Angehörigen über einen längeren Zeitraum mit der Kamera. Im Rahmen dessen entstand 2007 die Idee zu „Konfetti im Kopf“, eine Aktivierungskampagne, die eine breite Öffentlichkeit zu neuen Sichtweisen auf Demenz ermuntern will. Teil dieser Kampagne unter der Schirmherrschaft des früheren Bundespräsidenten Roman Herzog, die u.a. schon in Berlin zu Gast war, ist nun erneut eine große Open-Air-Ausstellung in Hamburg, die vom 24. Mai bis 2. Juni mit vielen dazugehörigen Veranstaltungen und illustren (prominenten) Gästen zum Mitmachen anregt – die wichtigsten Informationen finden Sie ab 24. Mai in diesem =3-49&tx_ttnews[tt_news]=1758&cHash=f3064dbc37166d01ba1feafce715c9e0]CareTRIALOG-Artikel.
Zu „Konfetti im Kopf“, aber auch zu seiner gesamten Arbeit mit Menschen mit Demenz gab der Kampagnen-Initiator und Fotograf Michael Hagedorn dem CareTRIALOG ausführlich Auskunft. Wir danken ihm ebenso für die vielen Bilder, die sich beim Anklicken vergrößern lassen.
Herr Hagedorn, wie kommt man als Fotograf dazu, Menschen mit Demenz abzulichten?Mein Interesse daran hat sich mit den Jahren entwickelt, denn ich hatte immer schon ein Faible für ältere Menschen. Als Kind habe ich viel Zeit mit meinem Uropa verbracht, der mir das Lesen und Schreiben beibrachte. Im Rahmen meines Zivildienstes, den ich in einem Pflegeheim absolvierte, ergab sich auch ein Fotoshooting zum Thema. Die Bedeutung von Demenz nahm dabei irgendwann zu, weil ich auch für Aufträge mit Menschen mit Demenz zu tun hatte. Inklusive des düsteren Klischees, dass Demenz eine einzige Abwärtsspirale ist, nur tragisch, nur traurig. Dagegen wollte ich etwas tun, denn ich habe mit diesen Menschen immer schon auch Positives erlebt.
Was ist für Sie das Besondere an dieser Arbeit?Eine ganze Reihe von Dingen. Beispielsweise schätze ich die Emotionalität dieser Menschen, ihre Direktheit, sie machen vieles aus dem Bauch heraus. Und es ist faszinierend, dass man ihnen kein X für ein U vormachen kann, sie spüren, ob man es ernst mit ihnen meint, ob man wirklich bei ihnen ist. Trotzdem muss man einschränkend festhalten, dass es den „klassischen Menschen mit Demenz“ nicht gibt, weil dieses Phänomen einen Prozess bedeutet, in dem sich so ein Mensch laufend verändert: Demenz fängt irgendwann an, ganz langsam, da ist das Vergessen aber nur eine Facette, wie sich eben auch Wahrnehmung und Emotionen verändern. Mein Ansatzpunkt dabei ist u.a.: Was maßen wir uns an, wenn wir diesen Prozess von außen beurteilen? Nur, wenn man sich auf Menschen mit Demenz einlässt, ist zumindest ein kleiner Einblick in ihr Seelenleben möglich. Doch selbst der muss nicht richtig sein.
Wie schaffen Sie es, eine Beziehung zu diesen Menschen und deren Welt aufzubauen?Das kann ich nicht genau sagen, dafür gibt es keine Formel. Für mich ist das auch normal, denn ich bin ins Thema reingewachsen – obwohl ich anfangs schon Manschetten hatte. Wichtig ist: Zeit mitbringen. Hinsetzen und warten. Zuhören, auch wenn niemand etwas sagt. Und nonverbal kommunizieren, gerade wenn sich nicht sofort ein Gespräch ergibt. Wenn ich mich als Pflegender andauernd auf einer Station oder in einer WG aufhalte, ist das natürlich etwas Anderes. Trotzdem kenne ich viele Leute, die in einer solchen Umgebung auftanken und sie genießen. Mir geht es ähnlich. Allerdings packe ich auch sehr viel Energie rein – und die kommt zurück. Ich danke: Das ist ein gegenseitiges Geben und Nehmen, das idealerweise in Balance gehalten werden kann. Ich liebe Menschen mit Demenz, und der Erfolg mag daher kommen, dass sie das spüren.
Können Sie dazu ein Beispiel geben?Ich habe mal in der Eifel im Gemeinschaftsraum einer Pflegeeinrichtung gesessen, in dem es ganz leise war. Da gab es eine ganz ruhige Frequenz, aber auch ein Wohlgefühl und eine Verbindung. Dort lebten Menschen mit fortgeschrittener Demenz, und ich liebe es speziell mit ihnen zu arbeiten, weil bei ihnen Regeln und Eitelkeiten nicht mehr da sind. Erst sind sie – in seltenen Fällen – herausfordernd, es gibt durchaus gelegentlich zunächst auch Ablehnung. Aber dann: sind sie gerade heraus und am innigsten. Menschen mit Demenz sind sehr selbstbestimmt, sie tun einfach, was sie wollen! Es knirscht eher, wenn Reglementarien sie einschränken...
Wie setzen Sie dann um, was Sie mit diesen Menschen erleben – auf welchen Blickwinkel kommt es Ihnen dabei an?Das ist auch für mich etwas im Nebulösen. Ich habe schon meinen eigenen Erwartungshorizont, wie ein „gutes Foto“ aussehen muss und male mir das aus. Das funktioniert bei Menschen mit Demenz aber nicht, da darf man nichts stellen, sondern man muss sich treiben lassen und beobachten, die Menschen leben lassen. Natürlich versuche ich dabei trotzdem, jeweils das bestmögliche Foto zu machen. Dabei entstehen oft auch Querverbindungen zu vorherigen Bildern: Wie kombiniere ich die, für eine Ausstellung oder ein Buch? Letztlich aber habe ich kein Konzept und keine festgelegte Meinung. Ich lasse mich immer neu überraschen, was passiert.
Viele Ihrer Motive zeigen lachende Menschen. Wie schätzen Sie Lebensqualität und -freude Ihrer „Fotomodelle“ ein: Können wir als Betrachter davon ausgehen, dass es ihnen in solchen Momenten wirklich gut geht?Das würde ich schon so sehen – doch wer weiß das genau? Trotzdem gilt in solchen Situationen dieses eine Lachen und dieser eine Moment, aus tiefstem Herzen. Wie das Weinen. Wichtig ist, dass man jede Reaktion absolut wertfrei nimmt, auch einem Foto keinen intellektuellen Stempel aufdrückt. Das genau ist ja eines meiner Anliegen: Es finden so viele Wertungen statt, wie
wir Menschen mit Demenz sehen, wie
wir Demenz nehmen sollten. Aber diese Haltung ist zynisch, grausam und arrogant. Nicht zuletzt für diese Menschen grausam, man denke etwa an Betroffene wie den Denker Walter Jens – was wissen wir darüber, ob oder was er auf seinem Weg noch davon mitbekommt?
Ich möchte einen Perspektivwechsel erreichen, etwa mit der Kampagne „Konfetti im Kopf“, und das nicht nur für Menschen mit Demenz, sondern auch für uns selbst, also für diejenigen, die – noch – keine Demenz haben. Denn allein Emotionalität kann eine Befreiung sein, indem man mal nur seine Kinder in den Arm nimmt...
Wie viele Fotos haben Sie seit 2005 gemacht und wo waren diese bisher zu sehen?Seit 2005 sind das ungefähr 50.000 Bilder, als Dateien in meinem Computer. Ich bin auch kein Wegwerfer, den Großteil habe ich aufbewahrt, weil ich denke, da könnten sich später noch Querverbindungen ergeben. Vielleicht mal für einen Film oder andere Projekte. Bislang waren Fotos vor allem im Rahmen der „Konfetti im Kopf“-Aktion zu sehen, darüber hinaus gibt es aber auch Ausstellungen zum Beispiel in Krankenhäusern, Rathäusern oder Seniorenheimen.
Gäbe es dabei einen Aspekt, den Sie noch verbessern würden?Vielleicht, als zweiten Schritt, noch mehr den Fokus auf die künstlerische Seite zu legen.
Welches sind Ihre Erfahrungen mit den Exponaten, wie reagieren die Betrachter auf Ihre Fotos?Die Reaktionen sind verschiedenen. Bei den Einen lösen die Fotos Distanz und Ängste aus und das belegt, wie wichtig die Auseinandersetzung mit dem Thema ist. Andere Leute, die im Thema drin sind, sind ebenfalls ein guter Gratmesser. Denn Pflegende oder Angehörige sagen meist: Genau so erleben wir das auch; oder: Es wird Zeit, solche Bilder öffentlich zu zeigen.
Mit „Konfetti im Kopf“ stellen Sie und Ihr Team nun wiederholt eine große Open-Air-Ausstellung zum Mitmachen vor. Warum ist diese Aktivierungskampagne mit ihren vielen Veranstaltungen so wichtig?Um in der breiten Bevölkerung in jeder Hinsicht ein anderes Bild von Demenz zu generieren. Das soll gar nicht lehrmeisterhaft sein, sondern wir wollen einfach verdeutlich: Demenz ist anders, als Ihr glaubt. Noch einmal: Es gibt immer wieder Leute mit der Vorstellung, dass Demenz nur Schicksal bedeutet und dass betroffene Menschen nur in einer Opferrolle stecken, dass die ganze Krankheit nur „schlimm“ ist. Genau da wollen wir einhaken, und dazu sind die Fotos eine gute Brücke. Wir wollen klar machen: Diese Menschen sind genau so liebenswert wie vorher! Und wenn man offenen Herzens auf sie guckt – kann das eine befreiende Wirkung haben und Bereicherung für uns alle sein.
Mit welchen Argumenten konnten Sie den früheren Bundespräsidenten Roman Herzog überzeugen, für „Konfetti im Kopf“ die Schirmherrschaft zu übernehmen?Das hatte sich über unsere Arbeit in der „Pilotstadt“ Berlin im Herbst 2009 ergeben. Roman Herzog war begeistert von „Konfetti im Kopf“ und steht voll dahinter. Er ist überhaupt sehr respektvoll allen Menschen gegenüber.
Was haben Sie durch ihre langjährige Arbeit mit Demenz-Patienten gelernt?Das ist so ähnlich wie die Frage nach dem Huhn und dem Ei: Hat man sich persönlich, mit seiner Arbeit entwickelt – oder war zuerst das Thema? Ich kann nur feststellen, dass ich sehr viel Energie aus dieser Arbeit ziehe. „Konfetti im Kopf“ ist zudem überwiegend eine ehrenamtliche Sache, ich kann mir diese Aktion nur erlauben, weil ich hochkarätige andere Aufträge habe. Wozu sich auch die Frage stellt, ob das eine aus dem anderen oder das andere aus dem einen resultiert. Egal wie: Es sind die Glücksmomente, für die ich allen Menschen mit Demenz sehr dankbar bin.
Und was können wir alle von Menschen mit Demenz lernen?Das Leben im Jetzt anzunehmen! Was diesen Menschen ja irgendwann gelingt, wenn die Schwelle des „gnädigen Vergessens“ überschritten ist. Offenbar erreicht ihr Leben dann eine andere Form, eine andere Dimension – wie auch die Befreiung vom reinen Verstand. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass wir im Kern immer wir selbst bleiben: nicht verstandesorientiert, nicht durch Normen beschränkt. Im Laufe des Lebens aber verlernen wir, uns so zu nehmen, wie wir sind, auch wenn das unbewusst geschieht: Wir haben eine falsche Vorstellung von uns selbst und verlieren oft unsere wahre Seele aus den Augen. Es gibt dabei zwei grundsätzliche Dinge, die uns das Leben zur Hölle machen: Angst und Kontrolle. Demenz führt das ad absurdum, dreht alles um: Die Angstschwelle sinkt bei vielen, wenn sie in ein harmonisches Umfeld eingebettet sind, und Kontrolle ist gar nicht mehr möglich. Wenn sich das Falsche so entblättert – zeigt sich Schönheit.
Alle Informationen zu „Konfetti im Kopf“, mit dem kompletten Hamburger Veranstaltungskalender vom 24. Mai bis 2. Juni 2013, finden Sie auf der Aktions-Homepage. Und mehr zu allen Arbeiten von Michael Hagedorn auf seiner persönlichen Internetsite.